Wandel: Wenn aus Brüdern Männer an unterschiedlichen Orten werden
Lando und Ken luden sämtliche Kisten in einen großen Fargomlaster, für den Ken sich eine Sondergenehmigung geholt hatte, um damit auch durch die Innenstadt Ostinks fahren zu dürfen. Eine dunkelhaarige Frau stellte sich ihnen als »Deborah Wingsleg« vor. Sie arbeitete in der Süd-Varaner Universität und wollte ein Semester in Ostink verbringen. Allerdings zog sie nicht in Kens Zimmer, weil es ihr zu klein war. Sie hatte bereits ein Appartement über dem »Café Mond« bezogen. Freundlicherweise half sie ihnen beim Ausräumen von Kens Wohnung. Dabei sprach sie unentwegt über ihr Forschungsthema, die Ausdünstungen der Schwebfische. Als sie sah, dass Lando ein Kiemenmann war, schrak sie zurück. Wie alle Süd-Varanerinnen war sie klein, doch nicht so zierlich wie Nora. Deborah starrte auf Landos Kiemen. Ken lachte und sagte: »Sie sind echt, keine Sorge!« Daraufhin fragte Deborah Lando ganz angetan: »Vielleicht kannst du ja mal zusammen mit mir tauchen gehen, um die Schwebfische mit mir zu filmen?« »Dafür habe ich keine Zeit«, erwiderte er ihr schroff. Anschließend trug er eine weitere Kiste hinaus.
Nachdem Deborah sich von ihnen verabschiedet und Ken noch einen Reiseführer für Süd-Varan geschenkt hatte, saßen sie auf den letzten Kisten im ansonsten leeren Zimmer des Internats. Ken wuselte sich durch die dunklen Haare. Er runzelte die Falten. Dann nahm er seine Brille ab und putzte sie mit seinem T-Shirt. »Ich habe es mir überlegt, ich will dir all meine Aufzeichnungen zu unserem Projekt hierlassen. In Süd-Varan werde ich ja doch nicht dazu kommen. Und vielleicht kannst du noch mehr herausfinden?« Anschließend setzte er sich die immer noch dreckige Brille wieder auf und lächelte verkrampft. Lando beschäftigte der Anblick des nun leeren Zimmers hinter seinem Freund. Dieser wollte ihn besänftigen. »Vielleicht findest du ja ganz viel Neues heraus über die Heilkräuter der Trohpa. Aponi wird dir sicher bald mehr darüber erzählen!« Es war keine Absicht, dass Landos Stimme so abweisend klang, doch er konnte seine schlechte Laune nicht verbergen. »Ich werde Aponi erstmal nicht wiedersehen! Sie muss ein halbes Jahr lang allein in den Dschungel ziehen, um eine Reifeprüfung als Jägerin zu bestehen.«
Angespannt wischte Ken sich über die Bartstoppeln. »Das tut mir leid!« Draußen lud der Fahrer die Kisten aufs Fargom. Charles wies den neuen Hausmeister ein. Einige Studenten fragten ihn, ob das Zimmer jetzt frei werden würde, doch Charles verneinte. Lando dachte an all die schönen Momente, die er mit Ken in dieser kleiner Bude genossen hatte, an all die Experimente und all die philosophischen Gespräche, die sie oft miteinander bis tief in die Nacht hinein geführt hatten. Beim Blick auf das kleine schwarz angelaufene Fenster erinnerte er sich an den Abend, als ihnen ein Kräutersud misslungen und angebrannt war. Es hatte fürchterlich gestunken.
Traurig starrte Ken auf seine Schuhe, die ähnlich altmodisch waren wie seine Brille und seine Krawattensammlung. Krawatten, die er nie trug, die ihm nur als Lesezeichen dienten oder über den Bücherregalen hingen. »Es ist ja nur für ein Semester!«, meinte Ken plötzlich. »Wenn ich wieder da bin, dann arbeiten wir weiter an unserem Trohpa-Projekt. Versprochen!« Ken erhob sich. »Es wird Zeit. Ich muss los!« Vor der Tür drehte er sich um. »Du machst doch keine Dummheiten, oder, Lando?«
»Was meinst du mit Dummheiten? Meinst du damit, mit einer dämonischen Trohpa zu schlafen, die mich verfluchen könnte?« Er stand auf. »Also für mich ist es vielmehr eine große Dummheit, freiwillig in eine militärisch regierte Region wie Süd-Varan zu ziehen!« »Ach, Lando! Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute! Ruf mich einfach an oder schreib mir eine Nachricht. In Ordnung?« »Sicher!« Lando wollte an ihm vorbeigehen, doch Ken hielt ihn fest. Dann umarmte er ihn. Erst stand Lando starr da, doch dann legte schließlich auch er seine Arme um Ken. »Für immer Brüder, weißt du noch?«, meinte Ken.
Lando griff in seine Ledertasche an seinem Gürtel und holte eine Kette daraus hervor. Er überreichte sie seinem Freund. Ken stutzte. »Ist die von Aponi? Ein Oro anamgo aus ihrem Clan?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht getraut, sie ihr zu zeigen. Ich habe diese Kette damals im Dschungel gefunden, an dem Tag, als wir uns am Slómo verirrt haben. Sie hat mir immer Glück gebracht. Zumindest vor dem Gift des Teufels-Trohpa hat sie mich beschützt.« »Und jetzt schenkst du sie mir? … Was denn, du hast sie, seit unserem Horrortrip damals? Und du hast sie mir nie gezeigt?«
Lando erklärte ihm: »Du hast gesagt, ich wäre von den Trohpa verhext worden und du wolltest nicht mit mir reden, nachdem wir uns am Slómo voneinander getrennt hatten.«
Daraufhin lachte Ken. Dann erklärte er: »So ganz un-recht hatte ich damit vielleicht nicht. Bist du dir sicher, dass du sie nicht behalten willst?« »Ja. Ich habe zwei neue Glücksbringer. Dieser hier ist für dich.«
»Danke, Bruder! Wenn sie dir so viel Glück gebracht hat, dann kann sie ja nur Gutes bewirken! Aber ich werde sie unterm Hemd oder in der Hosentasche tragen. In Süd-Varan kann niemand etwas mit Trohpa-Schmuck anfangen. Ich denke, die Süd-Varaner sind mit so etwas noch strenger als einige Leute hier in Ostink.«
Noch einmal umarmten sie einander. Anschließend fuhr das große Fargom vom Hof. Charles sah Lando an. Er sagte: »Also mir wird er auch fehlen! Nur der Gestank seines Essens, den werde ich nicht vermissen!«
Ohne eine weitere Gefühlsregung zu zeigen, verabschiedete Lando sich vom Pförtner. Dann bestellte er sich eine Kutsche, um die Bücherkisten, die Ken nicht mehr mitnehmen konnte und wollte, in seine Wohnung zu bringen. Seine Mutter hatte ihm eine Blechkiste vor die Tür gestellt. Darin befanden sich zwei Töpfe: Kamsosuppe und ein Stück gebratenes Wüstenrindfleich. Dankbar erwärmte er das Essen. Danach setzte er sich neben das Skelett Lolo, das nun mal wieder seinen Rangerhut trug. Lolo hatte jetzt Gesellschaft von einem Torso, dem Organmodell, das Ken ihm vermacht hatte.
Während Lando aß, versuchte er an nichts zu denken, was ihm nicht gelang. Also schaltete er ausnahmsweise den kleinen flachen Wand-Toschgab an, der aus einer der Ferienwohnungen Paolas stammte. Er zappte durch die Kanäle. Dann sah er sich erst eine Dokumentation über Süd-Varan an und anschließend schaltete er die Sîlarder Nachrichtensendung ein.
»Präsident Azukena wird sowohl Calido als auch Laroca erforschen lassen. Im Anschluss an diese Sendung sehen Sie eine Reportage zu diesem Thema. Vor einigen Minuten ist uns gemeldet worden, dass General Reiss die amtierende Präsidentin Süd-Varans abgelöst hat. Seit Wochen ist Frau Stemmer verhört worden und nun haben Toschgab-Dokumente bestätigt, dass sie einige Landwirte bevorzugt behandelt hat. Der Verteidigungsminister General Reiss wird die Regierung übernehmen. Er verspricht, dass kein einziger Landwirt und auch kein einziger Fischer Süd-Varans mehr benachteiligt werden wird, denn er will für die gerechte Verteilung der Fischgründe und der zu bewirtschaftenden Ländereien sorgen.«
Daraufhin wurde ein Bild eingeblendet, auf dem ein dicker Mann mit schwarzen Haaren in Uniform zu sehen war. General Reiss trug eine grüne, schirmlose Kappe, auf der ebenso viele bunte Abzeichen zu sehen waren wie auf der Brusttasche seiner Uniformjacke. Vom Aussehen her erinnerte dieser General Lando ein wenig an Greg Rockwen. Bei seinem Anblick ließ er den Löffel sinken. Was denn? Dieser Kerl sollte Süd-Varan regieren? Und ausgerechnet jetzt war Ken auf dem Weg dorthin! Da konnte man nur hoffen, dass es nicht zu Unruhen in der Stadt kommen würde. Er hörte weiter zu.
»Schon in den nächsten Tagen wird General Reiss einen Plan vorlegen, wie die Neugestaltung Süd-Varans auszusehen hat. Außerdem will er sowohl die Waffenindustrie als auch den Schiffsbau fördern. Er meint, dass es an der Zeit wäre, dass der Süden aus seinem Tiefschlaf erwache und endlich mal Sîlard die Stirn zeige. Der Sîlarder Präsident Azukena will sich morgen zum Regierungswechsel in Süd-Varan äußern. … Und nun zum Wetter: Uns stehen sehr kalte Wintertage bevor. Vor allem an der Ostküste Rodiwanas, in Unlivast und in Ostink werden Minusgrade erwartet. Dort wird es auch schneien. Der Ostwind wird das Meer an die Küsten treiben. In Sîlard und in den Ribborgs hingegen bleibt es mit fünf Grad kühl und regnerisch. Im Süden des Landes kann es zu Schneefall und zu Glatteis kommen. Fahren Sie vorsichtig! Und nun wünsche ich Ihnen einen schönen Abend!«
Lando ließ einen Actionfilm laufen, in dem Slagger Makwells mit gigantischen Lazergranaten um sich schoss. Es donnerte durch sein Zimmer, während er die Töpfe abwusch. Dennoch hörte er die Klingel der Haustür. Er schaltete den Bildschirm aus und begab sich nach unten. Seine Eltern standen in dicken Mänteln und mit Hüten vor ihm. Im Licht der Laterne flogen die ersten Schneeflocken. Sie lagen auch wie eine weiße Staubschicht auf der Pelzmütze Williams. Die Kälte brach in diesem Monat so schnell ein, dass viele Einwohner Ostinks kaum noch Zeit dazu hatten, sich warm genug anzuziehen. Doch Nora und William waren wie immer allem gewappnet und mit Sicherheit die Ersten, die rechtzeitig in Wintermänteln unterwegs waren.
»Wir haben gesehen, dass bei dir noch Licht brennt und…«, fing Nora an. »Willst du uns nicht hereinbitten?«, fragte sein Vater ungehalten. Zögernd ließ Lando sie nach oben gehen. Dabei entschuldigte er sich bereits für das Chaos und sagte, er hätte heute Kens Kartons bei sich eingelagert. »Dafür gibt`s einen Keller oder einen Dachboden«, erklärte ihm William. Lando hatte keine Lust dazu, ihm zu erklären, warum er Kens Akten und Bücher bei sich haben wollte. Bereits auf der Treppe befürchtete er ein Donnerwetter seines Vaters, sobald er die bemalte Wohnung sehen würde.
Nora blieb sprachlos stehen. William reagierte, wie Lando es vorhergesehen hatte. »Das sieht hier ja aus wie in einem Irrenhaus! Wenn du ein normaler Mieter wärst, dann würde ich dich jetzt rausschmeißen!«
»Will, lass ihn! Er ist kein Mieter, sondern unser Sohn und…«
William unterbrach seine Frau. Er befahl Lando: »Das streichst du alles wieder weiß!«
Lando wusste, dass jegliche Entgegnung nun einen Tobsuchtsanfall seines Vaters zur Folge hätte und so begab er sich zur Kochecke, um dort die ausgespülten Töpfe seiner Mutter abzutrocknen. Nora bewunderte das Wand- und das Deckengemälde. Nahezu ehrfürchtig betrachtete sie sämtliche Einzelheiten, während ihr Mann sich angewidert umsah, kurz das ungemachte Bett musterte und dann sprachlos das Skelett vor dem gemalten Meer anstarrte. Seine Mutter lobte ihn: »Der Dschungel ist dir besonders gut gelungen und die Sternendecke ist fantastisch.« Dann gab sie dem Rangerhut auf Lolos Kopf einen Stups. »Woher hast du denn das Skelett?« »Frau Loring hat es mir geschenkt. Sie hat ausgemistet.« »Frau Loring? So, so.« In diesem Moment rief William: »Mir wird das hier zu viel!« Er ließ sie allein. Nachdem er laut polternd die Treppe hinuntergelaufen war, lehnte Nora sich an den Küchentresen. »Du weißt ja, wie er ist.« »Ja. Willst du einen Tee?« »Nein.« Sie seufzte. »Es ist nicht leicht, wenn die Kinder das Haus verlassen. Ich meine, wenn sie…«
»Schon klar, Mama. Aber ich bin ja noch hier.« Er die Töpfe vor sie. »Und ich werde nicht nach Süd-Varan ziehen. General Reiss hat sich selbst zum Präsidenten ernannt. Wusstest du das schon?« »Ach, Lando-Schatz, ja, das weiß ich bereits. Willo hat es mir geschrieben. Meine Brüder werden die Farm abgeben müssen. Sie werden nur noch als Lohnarbeiter schuften, ohne ihre bisherigen Einkünfte. Es ist ein Jammer.« Nora musterte die Kartons und erkannte Kens Namen darauf.
»Was werden sie tun? Sie werden den Hof doch nicht etwa kampflos diesem Idioten überlassen?« Lando hatte nur noch vage Erinnerungen an seine drei Onkel, die er während eines kurzen Sommerurlaubs als Neunjähriger auf der Süd-Varaner Farm kennen gelernt hatte. Damals hatte er zum ersten Mal Ziegen gesehen und sie gestreichelt. Sobald er an Süd-Varan dachte, stieg ihm dieser markante Geruch des Ziegenfells in die Nase.
Damals hatte er sich in der letzten Nacht auf der Rinderfarm mit seinen Cousins auf dem Heuboden versteckt, um die doppelten Vollmonde durch eine Dachluke zu betrachten. Als Willo sie fand, gab es eine Tracht Prügel für seine beiden Cousins und Nora sperrte Lando in ihr Zimmer, damit ihr Bruder ihn in Ruhe ließ. Danach hatten sich die Geschwister die halbe Nacht lang miteinander gestritten. Es war schrecklich gewesen. Nie zuvor hatte er seine Mutter so wütend und laut erlebt. Gläser und Flaschen waren an Wände geworfen worden. Lando hatte so viel Angst gehabt, dass er mit seinem Taschenmesser unter der Matratze geschlafen hatte. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, hatte Smitti ihm in die Wange gekniffen und gesagt: »Wird Zeit, dass dein Fischvater dir Manieren beibringt!« Kopfschüttelnd hatte er Lando angesehen, der alle anderen Jungs des Hofes überragt hatte, obwohl er der Jüngste von ihnen war. »So klapprig wie du bist, überstehst du ja nicht einmal den nächsten Winter!«
Lando erinnerte sich nicht mehr an die Rückfahrt. Aber seine Mutter hatte ihm später erzählt, dass er kein einziges Wort mehr gesagt hätte. Der dritte Bruder, Richard, genannt "Riri", hatte Nora besonders zugesetzt. Er hatte damals, lange vor Landos Geburt, ihre Eltern gefunden, im Brunnen neben dem Ziegenstall. Die Todesursache war nie geklärt worden. Aber Riri war davon ausgegangen, dass sie sich aus Verzweiflung über den Verlust aller Freunde durch Noras Heirat mit einem Kiemenmenschen umgebracht hatten. Das war absurd, dachte Lando. Seine Mutter hatte ihre ganz eigene Theorie zum Tod ihrer Eltern. Sie glaubte an Mord. Nora meinte, dass ihr Vater mit sämtlichen Nachbarhöfen Streit gehabt hätte und dass es um Ländereien gegangen wäre. Jedenfalls hatte sie seit dem Tod ihrer Eltern und deren Beerdigung, zu der sie ohne William ge-flogen war, nie wieder nach Süd-Varan reisen wollen. Sobald sie auf ihre Heimatstadt angesprochen wurde, umging sie dieses Thema. Sie sagte stets: »Ich lebe seit Jahrzehnten in Ostink.«
Lando musterte seine Mutter und fragte: »Wer hat dir geschrieben? Willo oder Riri?« »Willo natürlich. Sagte ich das nicht? Lando, sie leben ihr Leben da unten. Ich würde auch jetzt noch alles dafür geben, dass sie die Farm behalten können, aber was sollte ich denn noch ausrichten können? Ganz ehrlich: dafür lebe ich schon viel zu lange hier! Ich habe nichts mehr mit Süd-Varan zu tun. Ich lebe seit Jahrzehnten in Ostink.«
Lando stöhnte. »Ich weiß.« Er sah sie eindringlich an.
»Aber steht dir nicht auch ein Viertel des Hofes zu?«
Landos Herz klopfte spürbar bis zu seinem Kiemen-hals. »Nein. Ich habe mein Erbe bereits damals an meine Brüder abgetreten, sonst hätte ich nicht gehen dürfen. Das war unsere Abmachung und meine Entscheidung. Warum interessiert dich das jetzt auf einmal? Du hast mich doch sonst nie nach Süd-Varan gefragt!« Sie strich über ihre Pelzmütze, die auf dem Küchentresen lag.
»Du hast nie darüber sprechen wollen! Liegt es nicht auf der Hand, warum ich jetzt an Süd-Varan denke?
Ein verrückter Diktator regiert den Süden. Machst du dir denn gar keine Sorgen um Ken?«, fragte er sie aufgebracht. Nora setzte sich die Pelzmütze auf. »Ken ist kein Farmer. Er wird Arzt werden. Er ist schon sehr früh erwachsen gewesen und er weiß, was er tut. Ich denke manchmal, Ken weiß es besser als du!« Sie nahm die Töpfe und ging zur Tür.
»Vielen Dank!«, erwiderte Lando und warf beleidigt die Tür hinter ihr zu. Dann öffnete er sie doch nochmal und sah ihr hinterher. Sie schien ihm nicht böse zu sein, lächelte nur kurz ein wenig verkrampft zu ihm nach oben und verschwand dann im Treppenhaus. Er ging zum Fenster. Von dort aus beobachtete er, wie sie über den Hof zum Haupthaus schritt. Jetzt unterhielt sie sich mit Tyron, der ihr einen großen Tintenfisch präsentierte. In diesem Moment dachte er, dass seine Mutter nicht viel anders war als das gelbe Ungeheuer, dessen Arme schlaff herabhingen und sich von Tyron biegen ließen. Auch sie hatte sich von den Winden in die Fremde treiben und fangen lassen. Obwohl er Willo, Smitti und vor allem Riri nicht mochte, dachte er, dass er es an ihrer Stelle als seine Pflicht empfunden hätte, ihnen zu helfen, koste es, was es wolle. Heute war kein guter Tag. Ohne Aponi hatte es schon lange keinen guten Tag mehr gegeben.
Nora hatte ihre älteren Brüder oft als »Sturköpfe« und »Haudegen« bezeichnet. Auf einem seiner alten ge-rahmten Fotos, das er nun am Küchentresen betrachtete, thronte Nora als kleines Mädchen auf den Schultern ihres ältesten Bruders Willo, die beiden anderen standen mit hochgekrempelten Armel daneben. Obwohl sie lächelten, hatten die Jungen allesamt ein so ernstes und latent aggressives Aussehen, dass Lando sich nie besonders zu ihnen hingezogen gefühlt hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass er genau wusste, wie sehr sie Noras Fortgang aus Süd-Varan und ihre Heirat mit einem Kiemenmenschen missbilligt hatten und wie schnell sie jähzornig werden konnten. Zum ersten Mal kam Lando der Gedanke, dass seine Mutter vielleicht nur deshalb so gut mit Williams Wutausbrüchen umgehen konnte. Riri hatte ihr erst vor einem Jahr erneut vorgeworfen, dass sie den Tod ihrer Eltern zu verantworten hätte. Wahrscheinlich hatte seine Mutter Recht, sie konnte dort nichts ausrichten. Und wahrscheinlich musste er sich an den Gedanken gewöhnen, dass er eigentlich noch nie eine richtige Familie dort unten in Süd-Varan gehabt hatte. Er stammte aus keinem guten Clan. Keinem Clan, in dem man zusammenhielt.
Nora sprach nie über ihre Eltern, ganz im Gegensatz zu William, der alle seine Vorfahren wie Heilige verehrte und der nach einigen Gläsern Rum den Untergang des Schiffes und den Tod seiner geliebten Eltern beweinte. Oft sagte William, dass er mit dem Ostmeer noch etwas auszufechten hätte. Mit dem Meer, das ihm zugleich alles genommen hatte und doch auch alles gab. Lando kannte sämtliche Geschichten über den Walfang, die Gründung der Fischhandelsfirma in Ostink und die ersten Boote der Fjordt-Firma auswendig.
In der Tat hatte er seine Mutter nicht mehr nach Süd-Varan gefragt, seit er damals mit ihr dort gewesen war. Später hatte er gespürt, dass sie nicht darüber reden wollte. Es existierte auch nur noch ein einziges Foto Landos Großeltern mütterlicherseits. Es stand ein wenig abseits auf dem Kamin im Wohnzimmer seiner Eltern und war vergilbt. Catrina und Thomas Torlivan standen darauf vor ihrer Farm. Sie stützte eine Hand in ihren Rücken, die andere lag über einem hellen Kleid auf ihrem schwangeren Bauch. Thomas stand mit einem Wildblumenstrauß und in einem ausgebeulten grauen Anzug neben ihr. Sie berührten einander nicht, ihre Mienen wirkten eher angestrengt als glücklich. Es war unfassbar, dass dies ihr Hochzeitsfoto sein sollte. Lando betrachtete es manchmal heimlich, wenn seine Mutter in der Küche oder im Esszimmer beschäftigt war.
Kein guter Clan, dachte er nun. Dennoch: Wie gern hätte er Großeltern gehabt! Aponi folgte dem Rat der Ältesten, sie tat das, was ihre Familientradition von ihr verlangte. Und er? Was konnte er schon ausrichten in der Familie Fjordt? In der Familie Torlivan? Nichts. Er konnte nur den Fang hochziehen und Laponfische ausnehmen, wie immer.
Lando begab sich schwermütig zu Kens Kisten und holte nach langem Suchen ein Lexikon über Meerestiere heraus. Er schlug »gelber Tintenfisch« nach. Er erfuhr, dass es sich um sehr sensible Tiere handelte, die sich nur in der richtigen Umgebung, bei passender Wassertemperatur und Bodenbeschaffenheit fortpflanzten und ansonsten einfach aufhörten, sich zu ernähren und dadurch starben. Anschließend legte Lando sich aufs Bett. Er sank erst nach vielen wirren Gedanken über Süd-Varan in den Schlaf.
Am nächsten Tag ließ die Kälte in der Halle die Fischer weniger miteinander sprechen als in den Tagen und Wochen zuvor. Die meisten hatten ihre Schals bis über die Münder gezogen und trugen Mützen. Nur das Radio plärrte zur Ermunterung stets aus einer Ecke. Oft malte Lando sich während der Arbeit aus, wie es wäre, wenn er Aponi im Frühjahr wiedersehen würde. Dennoch arbeitete er konzentriert. Pünktlich stand er auf, duschte, aß eine Scheibe Brot, schuftete bis zum Mittag, setzte sich zu den Fischern im Hof oder in der »Boje Zehn«, um etwas zu essen und nach der zweiten Schicht war es auch schon ganz schnell wieder dunkel. Einmal in der Woche traf er Brandon im »Café Aureus« oder in einer anderen Bar, um mit ihm etwas trinken zu gehen. Dabei lehnte er im Gegensatz zu Brandon weibliche Angebote vehement ab. Im Hause seiner Eltern war es wie immer: Häufige Abendessen, an denen er nur teilnahm, weil er die Gerichte der neuen Köchin vorzüglich fand. Dort spielte er nur Theater. Seinem Vater fiel es nicht auf, doch seine Mutter schien immer Bescheid zu wissen. Noras lange Blicke konterte er mit: »Ich muss morgen früh hoch!« Er verabschiedete sich stets schnell, was sie oft mit einem Seufzen quittierte.
Nach acht Wochen dieses arbeitswütigen Einsiedlerlebens stimmte er Brandon zu: Er sollte wieder mehr unter Leute gehen! »Man ist ja nur einmal jung!«
Während eines Mondfestes, das in einer recht exzessiven Nacht erst um vier Uhr morgens in der »Boje« geendet war, hatte Lando sehr viel mehr getrunken als je zuvor. Er hatte Jackson erzählt, dass er im Sommer nicht Paola am Slómo getroffen hätte, sondern eine magische Trohpa. Der Pferdewirt hatte gelacht und gedacht, Lando würde scherzen.
Am nächsten Tag wusste Lando nicht mehr so genau, was er Jackson erzählt hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er ihm etwas über ein Treffen mit einer magischen Trohpa gesagt hatte, ohne Aponis Namen zu nennen. Er schwor sich, in Zukunft wie zu Kens Zeiten nie mehr als zwei Bier zu trinken. Von da an bezog er jeden merkwürdigen Blick und jedes Flüstern in seiner Umgebung auf sich. Zunehmend sprach er von Paola, wenn andere von ihren Liebschaften erzählten. Er wollte nicht den kleinsten Verdacht aufkommen lassen. Dennoch zog Jimmy ihn eine Woche später zu sich und fragte ihn: »Ist an den Gerüchten eigentlich etwas dran? Ich meine, dass du etwas mit einer magischen Trohpa hast? Ernsthaft, Lando? Mit einem Drittauge?«
Lando lachte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, was Jimmy aufgrund der Kälte draußen und der Tatsache, dass sie sich an der Seilwinde befanden, nicht zur Kenntnis nahm. »Na klar, und weißt du was, Jimmy, unter meiner Mütze, da verberge ich auch ein drittes Auge!« Ein wenig irritiert lachte Jimmy.
Am Abend half Lando gerade beim Aufräumen in der Halle, als William erschien und ihn darum bat, mit ins Büro zu kommen. Er sollte sich mit ihm zusammen die Bestellungen der Restaurants ansehen. Doch sein Blick besagte etwas anderes. Widerwillig folgte Lando seinem Vater.
Nachdem sie oben im Büro angekommen waren und sich die Mäntel ausgezogen hatten, setzte William sich an den großen Schreibtisch. Dann blieb er so sitzen, ohne auch nur eine einzige Liste herauszuholen. Jetzt wäre der richtige Moment gewesen, die Lampe einzuschalten, doch William blieb reglos in der rotgefärbten Dämmerung sitzen. Draußen tanzten dicke Schneeflocken über der Bucht. Schließlich gab William ein Seufzen von sich. Dann sagte er: »Ich höre viel Schlimmes über dich! Was tust du mir nur an?«
Lando blieb wie versteinert sitzen und schwieg. Erfahrungsgemäß war es das Beste, ihn einfach reden zu lassen.
»Dir ist nicht bewusst, was du alles verspielst! Muss ich dir denn wirklich noch erklären, wo du hingehörst? Du bist kein verrückter Dschungelranger! Du wirst in spätestens zehn Jahren die größte Fischhandelsfirma Ostinks übernehmen. Ich kann wirklich nur hoffen, dass der Winter dich wieder zur Besinnung bringen wird!«
William musterte seinen Sohn. »Und noch mehr hoffe ich, dass die Fischer sich mal wieder nur Geschichten ausgedacht haben.« Er lachte abfällig auf. »Mein Sohn und eine Trohpa! Das wäre ja der Witz des Jahrhunderts!«
Lando starrte auf die Schneeflocken.
»Nun? Was hast du dazu zu sagen?«
»Das ist Seemannsgarn, Vater! Das sind typische Fischergeschichten, wie du schon sagtest. Wer hat dir das erzählt? Jimmy? Oder Tyron? War es Tyron?«
»Das ist doch ganz egal! Es ist schlimm genug, dass mir so etwas zu Ohren kommt! Und dass du dich mal wieder zum Gespött der Leute machst!« William strich über die Tischplatte. »Ich werde dich aus der Halle nehmen. Mir ist es lieber, wenn du mir hier im Büro hilfst. Eigentlich solltest du das erst im nächsten Jahr tun, aber angesichts der Umstände…« »Gern!«, unterbrach ihn Lando höchsterfreut.
»Du wirst die Buchhaltung übernehmen. Ab morgen zeige ich dir alles.«
Lando stand auf.
»Moment noch! Ab jetzt wirst du nicht mehr ausreiten! Zumindest nicht den Ostweg hinunter. Von mir aus reite nach Unlivast oder in den Süden, aber ich will nicht noch einmal solche Gerüchte hören!«
»In Ordnung«, antwortete Lando. Dabei fragte er sich, wie sein Vater es eigentlich überprüfen wollte, wohin er in seiner Freizeit ritt. Als er an Jimmy und Tyron vorbeiging, die gerade einen Punsch am beheizten Imbiss tranken, sahen ihn die beiden Kiemenmänner fragend an. Jimmy stand ins Gesicht geschrieben, dass er wissen wollte, ob William ihn zusammengefaltet hatte. Wortlos schritt er an ihnen vorbei. Es kostete ihn viel Überwindung, aber die Ära »Fischhalle« war endlich vorbei!
06.06.2024
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