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32. Hutmann

Du liest hier den Originaltext der Fortstetzung von Landos Abenteuern im Dschungel.

Die Lissje-Kapitel werden nachgereicht. Eventuell wird im Roman noch etwas geändert.


Hutmann

 

Am Abend des Trohpadi-Festes versammelten sich alle Ureinwohner um das große Lagerfeuer herum, um der Allseherin zu lauschen. Lando war noch geschwächt vom giftigen Biss der Bleuelschlange. Er trank einen Tee, den Chuchip ihm zubereitet hatte. Lando vermutete, dass er seine Beteiligung an dieser Zeremonie nur dem Clanführer zu verdanken hatte. Viele andere Trohpa musterten ihn mal wieder skeptisch. Zum Glück trugen sie wie immer Stirnbänder über ihren dritten Augen. Die Frisuren der Magenas waren nach wie vor sehr gewöhnungsbedürftig für ihn. Alle Mitglieder dieses Clans hatten abrasierte Schläfen und einen mittig gelegenen Haarschopf, der in unterschiedlich langen Zöpfen über ihre Nacken und Rücken fiel. Die mit Pflanzenextrakten hergestellten Haarfärbungen signalisierten den jeweiligen Rang und Aufgabenbereich der Trohpa. Der Clanführer Chuchip hatte als wichtigste und ranghöchste Person der Magenas rotgefärbte Haare, so wie seine Tochter Aponi sie getragen hatte, als Lando sie den letzten Sommer über heimlich am Slómo-Fluss getroffen hatte. Die einfachen Jäger hatten grüne oder braune Haare und die Seher Vasno, Isdarra und Pikkta weiße. Das wirkte besonders irritierend, denn sie waren noch keine dreißig Jahre alt.

Den Namen der Seherin Pikkta und ihre Erscheinung hatte Lando sich bereits am ersten Abend einprägen können, weil ihr Gesicht und ihr Hals mit zahlreichen Schlangentätowierungen versehen waren. Sie besaß auch Schlangen, die ihr beim Hellsehen halfen. Von allen Trohpa, die er bis jetzt während der Seher-Zeremonie und seiner ersten Tage hier kennen gelernt hatte, waren ihm Chuchip und Vasno am liebsten. Bei Chuchip lag es auf der Hand, denn er hatte schließlich entschieden, ihn nicht von der Plattform zu stürzen, sondern hier mindestens so lange in seinem Clan aufzunehmen, bis Aponi von ihrer Jägerprüfung zurückkommen würde. Seine Tochter sollte dann entscheiden, ob er hier bleiben sollte oder nicht. Dabei schien Chuchip felsenfest davon auszugehen, dass Aponi ihre einsame Wanderung bis nach Wolfsgrad und zurück, die nun schon den ganzen Winter über andauerte, überleben würde.  


Der Clanführer reichte Lando gerade einmal bis zur Brust, wie fast alle anderen Magenas. Natürlich war Lando es mit seinen einen Meter zweiundneunzig auch aus seiner heimatlichen Küstenstadt gewohnt, andere Menschen zu überragen, wenn es sich bei ihnen nicht ebenfalls um Kiemenmänner handelte, aber hier fühlte er sich wie ein Riese. Nicht nur seine Körpergröße, seine Kiemen am Hals und seine kinnlangen blonden Haare, sondern auch sein großer Rangerhut, den er als Schutz vor der Gluthitze brauchte, unterschieden ihn von den Ureinwohnern, deren etwas dunklerer Haut die Strahlen von Aureus nichts ausmachte.


Bereits bei der ersten Begegnung mit Chuchip hatte er ihn „Hutmann“ genannt. Es war, als hätte Lando nicht nur seine Heimat hinter sich gelassen, sondern auch seinen Namen. Er war nicht mehr Lando Fjordt, der Sohn des reichsten Fischhändlers Ostinks, sondern wurde auf seinen markanten Hut reduziert, was er sehr ungewöhnlich fand. Es handelte sich dabei doch lediglich um ein im Dschungel für ihn notwendiges Utensil und nicht um ein Attribut, das etwas mit seiner Persönlichkeit zu tun hatte! Es musste daran liegen, dass er ihnen während der Seher-Zeremonie auf der fünf Meter hohen Plattformen zwischen den Bäumen die Antwort auf die Frage, was sein Name „Lando“ denn zu bedeuten hätte, schuldig geblieben war. Oder es lag daran, dass Chuchip ihn mit diesem Hut in einer seiner Visionen gesehen hatte. Aber so ganz genau wusste Lando es nicht.

Was bedeutete sein Name denn? Was bedeuteten „Ken“, „Brandon“, „Peter“, „Nora“…zum Donner nochmal, es waren doch bloß Namen! Wieso mussten sie etwas bedeuten? Die Magenas waren ihm ein Rätsel. Aponi hatte ihn nie nach der Bedeutung seines Namens gefragt! Sie hatte ihn einfach so akzeptiert – als Lando. Er hätte auch „Hugo“ oder „Sam“ heißen können, es wäre ihr wohl vollkommen egal gewesen.


Lando hatte den Großteil seines Lebens damit zugebracht, sich Anerkennung zu verschaffen. Nun fing er noch einmal ganz von vorn, komplett bei Null an. Ihm wurde bewusst, dass er vollkommen naiv an die ganze Sache herangegangen war. Er hatte auf Aponi vertraut und insgeheim hatte er es sich so vorgestellt, dass sie ihrem Clan alles erklären würde und er dann von allen sofort geliebt und anerkannt werden würde. Dass er Misstrauen und Ablehnung erfahren würde und sich dazu noch wie ein dummer Dorfdepp fühlen müsste, weil er nicht einmal wusste, was sein eigener Name zu bedeuten hatte, war eine grauenvolle Erkenntnis für ihn. Natürlich war das andere Extrem seiner Gedanken und ängstlichen Visionen davon beseelt gewesen, dass die Magenas ihn töten, verfluchen oder foltern könnten, aber all das hatte er gerade verdrängt. Jetzt war ihm schon ein Blick dieser Fremden zu viel.

Immerhin: Er lebte noch. Darüber sollte er sich freuen! Doch alles, was Lando urplötzlich empfand, war das Gefühl, etliche Jahre seines Lebens in Ostink verschleudert und verschwendet zu haben, nur, um später ein anerkannter und angesehener Chef der Firma „Fjordt“ zu werden. Hier war er nicht auf den Schlag frei, weil er im Dschungel und woanders war, nein, hier herrschten ganz andere Sitten! War er vom Regen in die Traufe gekommen? Und das auch noch aus eigenem Antrieb?   


Er war hier jetzt alles andere als frei!

Er fühlte sich wie eine Geisel, ein Beobachtungsobjekt und erneut so wie früher - wie jemand, der viel zu groß, viel zu blond und als Kiemenmensch von der Küste einfach viel zu anders war als alle anderen Clanmitglieder. Aponi wäre die Einzige gewesen, die all das überbrückt hätte.


Die Allseherin, diese alte griesgrämige Hexe, sah ihn an wie einen dämonischen Eindringling und auch die Wächter Chuchips würden ihn am liebsten abstechen, das spürte er. Lando wusste auf der anderen Seite ganz genau, dass eine Rückkehr nach Ostink nicht möglich war. Denn er hatte sich entschieden: Gegen Ostink und das Meer und für Aponi und den Dschungel.  

 

Die beiden neuen Begleiter, die Chuchip ihm verordnet hatte, gefielen ihm. Insbesondere Vasno. Lando hatte das Gefühl, in ihm einen neuen Freund gefunden zu haben. Vasno war, genau wie er, auch einundzwanzig Jahre alt. Aber er wirkte auf ihn wie eine elfengleiche, androgyne und manchmal alterslos erscheinenden Gestalt. Er hatte ein zurücknehmendes Wesen und konnte anscheinend auf jede Frage eine kluge Antwort geben. Seine weißgefärbten Haare und die Tatsache, dass er einer der drei Seher des Clans war, verliehen ihm zudem eine mysteriöse Aura, die jedoch niemals so undurchschaubar auf ihn wirkte wie die von Isdarra oder Pikkta. Er war ein Mann, mit dem er sich nicht auf dem typischen Gesprächslevel der Fischer, sondern auf dem eines Ken Charlston bewegte. Mit Ken hatte er nächtelang über Heilkräuter, die Trohpa und natürlich auch über seine Begegnung mit Aponi sprechen können. Sie hatten stets ausgiebig miteinander diskutiert und philosophiert. Nun war er für ein Semester im südlichen Süd-Varan und Lando saß hier im magischsten Clan der Trohpa im Dschungel fest, leider ohne Aponi. (Natürlich wusste Lando nicht, dass Ken aufgrund der katastrophalen politischen Lage im Süden bereits wieder in Ostink war.)


Rein äußerlich war Vasno das absolute Gegenteil seines dunkelhaarigen, schüchternen Freundes aus Ostink, weil er eine wirkliche Erscheinung war und nie zerstreut wirkte. Aber Lando konnte sich mit ihm ähnlich gut und tiefsinnig unterhalten wie mit Ken. Vasno und er sprachen über Pflanzen, Tiere und die Religion der Trohpa. Dabei hatte Lando stets das Gefühl, dass dieser weißgefärbte Mann auch in ihm einen interessanten Gesprächspartner sah. Vasno stellte nie Fragen, aber allein sein Blick aus seinen dunklen Augen – ganz ohne das Stirnband vom dritten Auge zu lösen – bedeutete ihm immer eine Richtung, die das Gespräch nehmen könnte und vielleicht sollte. Vasno war größer und schlanker als alle anderen Ureinwohner. Er musste ursprünglich aus einem anderen Clan stammen. Seine helle Kleidung aus Ziegenleder passte zu seinen weißgefärbten Haaren. Unglaublich viele Ketten mit Knochen, Zähnen, Steinen und Amuletten, die er um den Hals trug, signalisierten, dass er in Verbindung zu anderen Welten stand. Auf Lando wirkte er immer wie die Ruhe selbst. Gemeinsam mit Isdarra, die Lando noch gar nicht einzuordnen wusste, weil er ihre Mimik oft nicht deuten konnte, hatte dieser sympathische Seher ihm die Umgebung gezeigt und ihm einige der wichtigsten Regeln des Clans beigebracht. Mittlerweile wusste Lando, dass er Aponis Namen nicht erwähnen durfte, weil die Tochter des Clanführers noch nicht von ihrer Reifeprüfung als Jägerin zurück war und weil es Unglück bringen würde, ihren Namen auszusprechen. Er wusste auch, dass hier alle an die Sonnengötter „Aureus“ und „Aurea“ glaubten, die vereint in der Sonne „Aureus“ lebten. Nur nachts erschienen sie getrennt voneinander in den zwei Monden „Claron“ und „Starolk“. Beim doppelten Vollmond blickten sie wie ein Augenpaar auf Pagus hinab und sahen hier nach dem Rechten. Ihm hatte der Gedanke schon immer gefallen, dass die Sonnengötter auch durch die beiden Monde zu ihnen herabsahen. Bereits in seiner Schulzeit hatte er die mystischen Welten der Trohpa in Buchform verschlungen. Später, während der doppelten Vollmondfeste in Ostink, hatte er nur zu gern von der Steilküste aus zu den beiden Monden emporgeblickt und sich gefragt, was die Augen der Sonnengötter wohl gerade sahen und ob sie ihm vielleicht ein Zeichen geben könnten, einen Wink, eine Botschaft. Stundenlang hatte er auf seinem Lieblingsstein ausgeharrt, während die Einheimischen und die Touristen auf dem Festplatz gefeiert hatten. Es war ihm noch nie schwergefallen, an übernatürliche Erscheinungen zu glauben. Seine Kindheit war bevölkert von Meerjungfrauen, Spukgeschichten, Sagen und Piraten gewesen. Durch die vielen Sommertage mit Aponi wusste er bereits mehr über ihren Clan als jeder andere Küstenbewohner. Doch diese Menschen hier, die sich am Lagerfeuer versammelten und deren bunte Haare ihn an die Streifen eines Regenbogens erinnerten, hatten ihre – aus Ostinker Sicht „kindliche“ Fantasiewelt nie ablegen müssen so wie er, sie waren ganz archaisch tief mit Geschichten, Sagen, Legenden und mit dem Glauben an Sonnengötter, Planetenkinder und an die Elemente der Natur verbunden.

Als Riese mit Rangerhut war er hier doch nur ganz am Anfang, wie in einem ersten Semester, wie ein Praktikant in einem exotischen Universum. Seine Vorstellungskraft reichte weit, aber im Gegensatz zu dem, was diese „Drittaugen“ wohl wahrnehmen konnten, war er gefühlt nichts als ein Eindringling. Er war ein namenloser Niemand, der schon in den ersten Tagen im Dschungel beinah am Gift einer Bleuelschlange gestorben wäre, wenn Chuchip ihn nicht gerettet und geheilt hätte.


Lando spürte, wie sein Rücken schmerzte, was daran lag, dass er sich gern ein wenig kleiner machte. Natürlich hätte er seinen Hut nun abnehmen können, zumal es dunkel war, doch auf einmal war dieser ihm wichtiger als jemals zuvor: als Schutz und als Namensgeber und vielleicht auch als alles, was diese Menschen in ihm sahen: den „Hutmann“. Was auch immer das zu bedeuten hatte.


Hoffentlich beachteten die Clanmitglieder ihn heute nicht weiter und ließen ihn in Ruhe! Er war müde und er wäre am liebsten allein in Aponis Hütte gegangen, um an ihren Kleidern zu schnuppern, sie an sich zu drücken und gedanklich nur bei ihr zu sein. Er war es leid, so vielen unterschiedlichen Blicken ausgesetzt zu sein, die er notgedrungen stets interpretierte. Aus den Augen und Mienen der Wächter Slorra und Bekmo las er eine unterschwellige und manchmal sogar offene Aggression, bei den Seherinnen Chenoa und Pikkta spürte er ein tiefes Misstrauen und in allen anderen Blicken lag Skepsis. Nur der kleine Kiruan, der ihn hierhergeführt hatte und den er aus dem Slómo vor einem Ohrenkaiman gerettet hatte, sah ihn so liebevoll und so voller Bewunderung an, als wäre er der tollste Mann, den er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Das Einzige, was Lando jetzt noch beruhigte, war die Tatsache, dass all seine Gefühle nicht noch zusätzlich durch ihre Stirnaugen beeinträchtigt wurden.

 

Nun hatten sich – bis auf die Wächter in den Bäumen – sämtliche Dorfbewohner auf dem großen Platz versammelt. Sie saßen in drei Reihen hintereinander am Lagerfeuer. Er schätzte, dass es sich mindestens um sechzig Menschen handelte. Aber da es recht dunkel war und seine Sinne geschwächt waren, konnte er sich auch irren und es könnten noch weitaus mehr Trohpa sein. Weil er so erschöpft war und seine Arme und Beine sich so schwer wie nach einem Ringkampf anfühlten, hoffte er, dass dieser Abend mit diesem ihm unbekannten „Trohpadi“-Fest nicht allzu lange dauern würde. Das Gift der Bleuelschlange schien immer noch nicht vollständig aus seinem Körper gewichen zu sein. Er wusste, dass es an ein Wunder grenzte, dank Chuchips Heilkunst überlebt zu haben. Menschen, die von Bleuelschlangen gebissen worden waren, starben spätestens zwei Stunden danach.

Überlebten sie diesen Angriff, so konnten sie ihr Leben lang unter Spätfolgen wie Lähmungserscheinungen oder Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen leiden. Er hatte den Clanführer und Heiler nicht danach gefragt und hoffte, dass ihm kein solches Schicksal bevorstehen würde. Das Hinunterschlucken des Tees war auch jetzt noch eine Herausforderung für ihn, weil er eine latente Übelkeit in sich verspürte.


Während immer mehr Clanmitglieder sich ans Feuer setzten, sah er ihre einfache und selbstgenähte Kleidung und musste daran denken, dass Paola ihm immer Hemden aus der Metropole Sîlard hatte bestellen wollen. Sie hatte nie begriffen, dass er mit ihrer wichtigtuerischen Welt rein gar nichts hatte anfangen können. Sollte sie doch einem anderen Kerl Hemden aus Sîlard bestellen und ihm diese anziehen! Und sollte dieser Typ sich doch den Posten als Rockwen-Erbe sichern und sich später um ihr noch ungeborenes Kind kümmern, das mit Sicherheit von Siljo Brammers stammte! Er wollte lieber halbnackt mit Aponi von Pyllbacko-Bäumen aus in den Slómo springen und sich mit ihr über ihre Geisterwelten unterhalten als im geschniegelten Anzug die grauenvollen Kuppelhäuser eines noch grauenvolleren Schwiegervaters zu loben!


„So nachdenklich, Hutmann?“, fragte Chuchip ihn auf einmal.  

Lando zuckte zusammen. Dann trank er noch einen Schluck Tee. Anschließend sah er auf, weil es so ruhig geworden war und die weise Chenoa zu sprechen begann.


„Ihr kennt alle die Entstehung der sieben Planeten durch unsere Sonnengötter. Ihre sieben Kinder haben die Planeten, die um Areus kreisen, unterschiedlich gestaltet. Bevor Pagus unseren Planeten mit Landschaften verzierte, lebte er hier mit seinem Bruder Barrameo, der die Meere und Flüsse erschuf. Ihrer Mutter, der Sonnengöttin Aurea, gefielen Barrameos Wasserwelten so sehr, dass sie ihm einen neuen, eigenen Planeten schenkte. Barrameo freute sich darüber und gestaltete den Wasserplaneten, der weit hinter der Sonne „Aureus“ und noch viel weiter hinter unseren beiden Monden liegt. Er ist nach ihm „Barrameo“ benannt. Der gute Wassergott besuchte Pagus häufig, um den schönen Landschaften seines geliebten Bruders Wasser in Form von Regen zu schenken und um hier hin und wieder nach all den von ihm erschaffenen Wasserpflanzen, den Meeres- und den Flusstieren zu sehen. Eines Tages erzählte Pagus ihm, dass ein Skorpiongeist namens „Boddrunko“ sein Land und seine Kreaturen bedrohen würde und er warnte ihn davor, dass dieser unheilbringende Dämon auch die Gewalt über das Wasser an sich reißen könnte. Barrameo schickte sintflutartige Regenfälle, doch sobald er wieder zurück zu seinem Planeten kehrte, trockneten die Böden Rodiwanas schnell und es kam zu Dürrezeiten. In einigen Bereichen unseres Landes entstanden Wüsten, in denen Boddrunkos Helfer, Skorpione, Schlangen und andere todbringende Kreaturen zu herrschen begannen.

In seiner Angst vor der zunehmenden Macht des Dämons erschuf Barrameo daraufhin ganz besondere Menschen, Menschen die auch unter Wasser atmen können. Dabei handelt es sich um die Kiemenmenschen. Sie sollten ihren guten Geist in der Wasserwelt verbreiten. Er verlieh ihnen mehr Geschicklichkeit als vielen anderen seiner Meeresbewohner. Barrameo schenkte den Kiemenmenschen Laponfische und Mondmuscheln und ließ sie sehr groß und stark werden. Als diese Kiemenmenschen sahen, dass die Menschen an Land eine noch viel größere Auswahl an Nahrungsmitteln hatten, verließen sie das Meer. Auch sie wollten die süßen Früchte des Dschungels kosten und das fette Fleisch der Duolkaris essen. Nur wenige von ihnen blieben im Wasser. Sie leben darin noch heute als gute Geister in Muscheln oder als Meerjungfrauen, denen ein ewiges Leben beschert ist, solange sie nicht an Land gehen.

Betrübt teilte Pagus daraufhin seinem Bruder mit, dass all seine Kiemenmenschen nun nicht mehr auf die Flüsse und Meere aufpassen könnten. Deshalb wurde Barrameo der Schutzgeist der Kiemenmenschen und gemeinsam mit seinem Bruder verlieh er ihnen die Fähigkeit, weiterhin sowohl an Land als auch unter Wasser atmen zu können. Diese Kiemenmenschen und Mischwesen stellten eine enge Verbindung zwischen den Brüdern Pagus und Barrameo dar. Die anderen Menschen, die an Land lebten und die Pagus erschaffen hatte, vermehrten sich rasch und einige von ihnen wurden von Boddrunko eingenommen. Sie nahmen die Geschenke der Natur nicht mehr dankbar an, sondern wollten immer mehr davon. Sie begannen, das Land und auch die Flüsse und Meere auszubeuten.

Erneut eilte Barrameo seinem Bruder zu Hilfe. Er erschuf spezielle Fische, die ihm auf eine ganz besondere Art und Weise als Botschafter dienen sollten. Dabei handelte es sich um die Trohpadi. Der Wassergott vermachte ihnen ein drittes Auge mit magischen Fähigkeiten. Das Auge konnte Raum und Zeit überwinden und in die wahre Natur anderer Lebewesen hineinblicken, um dem Wassergott auch in weiter Ferne auf seinem Planeten auf dem Laufenden zu halten und ihm mitzuteilen, sobald der böse Skorpiongeist sich auch in den Meeren von Pagus ausbreitete. Die Trohpadi, die aus dem südlichen Meer Rodiwanas kilometerweit zum Laichen in den Slómo zu ihrer Geburtsstätte zurückkehrten, konnten sich immer auf Barrameo verlassen. Auch der gute Wassergott wusste, dass die Fische ihn unterstützten. Er ermöglichte es ihnen, sowohl im Salzwasser des Meeres als auch im Süßwasser des Flusses zu leben. Im Meer beschützte er sie, indem er ihnen ganz tiefe und geheime Wassergründe zeigte, in denen sie keine Feinde hatten und im Fluss hütete er das Geheimnis ihrer Heimat tief im Dschungel.

In der Hoffnung, dass die Hellsichtigkeit und die Weisheit dieser besonderen dreiäugigen Fische auch auf Menschen übergehen würde, erlaubte Barrameo es nur einem einzigen Volk, sich einmal im Jahr einen Monat lang von den Trohpadi zu ernähren. Bei diesem Volk handelt es sich um die Ureinwohner des Dschungels, die er „Trohpa“ nannte. Im Laufe der Jahre wuchs den Mitgliedern des ersten Slómo-Clans ein drittes Auge in der Stirn, mit dem sie in den Seelen anderer Lebewesen lesen konnten und erkennen konnten, sobald ihnen oder ihrer Umwelt Gefahr drohte. Anderen Dschungel- und Flussbewohnern, die sich nicht an Barrameos Vorgaben hielten und auch während der Schonzeit dreiäugige Fische angelten, blieb es versagt, die Weisheit und die Hellsichtigkeit der Trohpadi zu erben. Ihnen wuchs kein Stirnauge. Sie zogen später zum Jagen anderer Tiere weiter in unterschiedliche Regionen des Dschungels.


Dem guten ersten Slómo-Clan jedoch schickte Barrameo noch ein Zeichen seines Dankes. Vor mehr als tausend Jahren kamen beim zweiten aufgehenden Mond Eidechsen aus den roten Felsen. Sie wurden „Magenas“ genannt und hatten drei Augen wie die Trohpadi und die Menschen dieses Clans. Sie bewachten den Clan von allen Seiten: von den Felsen, den Steinen, den Bäumen und dem Fluss aus. Damals gaben sie geckende Laute von sich und ihre roten Punkte auf ihren Körpern begannen zu glühen, sobald sich Feinde näherten. Heute beschützen sie uns allein durch ihre Anwesenheit und das Wissen, dass sie Barrameo um Hilfe rufen, sobald uns Gefahr droht. Unsere Urväter, die damals als erste mit und unter dem schützenden Blick dieser Echsen lebten, benannten ihren Clan nach ihnen: sie waren der „Magena-Echsen-Clan“. Wir nennen uns die „Magenas“. Ein jeder von euch kann stolz darauf sein, diesen Clannamen zu tragen, denn nur wir haben die Seherkraft und die Weisheit Barrameos in uns, nur wir besitzen magische Fähigkeiten.“

Sie holte Luft, dann trank sie einen Schluck Wasser und schaute kurz zu Lando. Ihm war, als wollte sie ihn nun persönlich ansprechen, doch sie blickte wieder zu Chuchip und den anderen und fuhr fort: „Nachdem dieser Kiemenmensch hier bei uns angekommen ist, habe ich versucht, in seiner Seele zu lesen. Wie ihr wisst, habe ich nichts sehen können. Gemeinsam mit den anderen Sehern bin ich nun darin übereingekommen, dass es daran liegen muss, dass er ein Kiemenmensch ist. Vielleicht ist es nicht nötig, dass wir in Kiemenmenschen lesen, weil sie, wie die guten Trohpadi-Fische und die guten Magena-Echsen von Barrameo abstammen.“


Der Krieger Runkko verzog sein Gesicht und kaute mit seinen angespitzten Zähnen an einem Süßholzstock. Er war nicht der Einzige, der nun den Kiemenmann musterte, in dem niemand hatte lesen können. Doch keiner der Anwesenden wagte es, Chenoa zu unterbrechen oder sie darauf hinzuweisen, dass dieser Kiemenmann doch nichts mit einer tausend Jahre alten Barrameo-Geschichte zu tun haben könnte. Unruhe in den hinteren Reihen führte dazu, dass Chenoa wütend umherblickte und der Clanführer einmal auf eine kleine Trommel schlug. Lando sah, wie die Schlangenfrau Pikkta

verstummte, die kurz zuvor mit Slorra getuschelt hatte.

Es fiel ihm schwer, sich aufs Zuhören zu konzentrieren, weil er noch immer darüber nachdachte, warum er noch nie zuvor etwas von der engen Verbindung der Trohpa zum Wassergott Barrameo gehört hatte. An der Küste wäre so eine Symbiose für ihn wesentlich verständlicher gewesen als hier mitten im tropischen Urwald. Die Angst vor Boddrunko schien die Mitglieder dieses Magena-Clans unglaublich einzunehmen. Dabei waren wahrscheinlich alle Lebewesen, die ihnen schadeten, ob Mensch oder Tier oder sogar Pflanzen, vom bösen Skorpiongeist beseelt. Aponi hatte ihm viel darüber erzählt. Doch nie hatte sie ihm gegenüber erwähnt, dass er als Kiemenmann dem traditionellen Glauben ihres Clans nach frei von Boddrunkos sein müsste.


Einige wenige Trohpa, vor allem die Kinder, die in seiner Sichtweite saßen, lächelten ihm zu. Zumindest sie sahen in ihm etwas Gutes!   

Chenoa sprach weiter: „Niemand von uns hat bisher versucht, in einem Mann aus dem Meer zu lesen, weil noch kein Kiemenmensch bei uns gewesen ist. Sie hatten immer zu viel Angst vor dem Dschungel. Auch die Ranger sind keine Kiemenmenschen.“

Erstaunt wurde Lando bewusst, dass sie Recht hatte. In ganz Ostink gab es keinen Ranger, der Kiemen am Hals hatte.

„Einige spezielle Seher der dreiäugigen Magenas des ersten Clans empfingen schon damals Visionen aus der Vergangenheit oder der Zukunft anderer Menschen. Sie konnten auch in Tieren erkennen, ob in ihnen gute oder böse Geister wohnten. Die guten Geister stammten von Barrameo und Pagus, die schlechten von Boddrunko, der schon immer alle Kreaturen dieses Planeten vernichten wollte. Auch heute treibt er noch sein Unwesen hier. Aber wir spüren ihn auf! Wir sehen ihn, sobald er sich uns nähert! Ob er dabei in Gestalt einer Bleuelschlange erscheint…“, erneut sah sie Lando an, dem allein diese Erwähnung wieder seine schmerzende, ausgebrannte Wunde am Oberarm in Erinnerung rief, „…oder in Gestalt eines anderen Lebewesens! Diese Kraft hat uns einst der Verzehr der Trohpadi verliehen und so soll es auch weiterhin sein und bleiben, solange wir leben! Ab dem heutigen Tag, dem Trohpadi-Fest, dürfen wir einen Monat lang die Trohpadi aus dem Slómo angeln.“ Sie schaute zu Lando und erklärte ihm: „In anderen Regionen Rodiwanas wird heute das Blütefest gefeiert.“


Die Erwähnung des heutigen „Blütefestes“, das in Ostink auch „Calippa-Fest“ genannt wurde, rief in Lando kurz die Erinnerung ans letzte Jahr wach: genau vor einem Jahr hatte er mit der aufdringlichen Inga Felder aus Sîlard im Pferdestall gestanden und danach heimlich Meeresfrüchte für Aponi in eine Kühlkiste gepackt! Er hatte gehofft, sie noch ein zweites Mal am Slómo zu treffen. Hätte ihm damals jemand gesagt, er würde in einem Jahr mitten im Clan der Drittaugen, der Magenas, sitzen und einer weisen Allseherin lauschen – leider ohne Aponi – so hätte er denjenigen für verrückt erklärt.


Chenoa strich liebevoll durch das Wasser im Behälter vor sich und wiederholte zahlreiche Danksagungen für Barrameos Wohltaten. Kiemenmenschen erwähnte sie dabei nicht.

„Wir danken Barrameo, der uns diesen Monat die Trohpadi zu uns schickt. Wir danken ihm für das Wasser, das er uns vom Himmel sendet. Und wir danken den heiligen Magena-Echsen für ihre wachsamen Augen und ihren Schutz“, wiederholte Chenoa ein letztes Mal. Danach nickte sie dem Clanführer zu, der daraufhin das Wort übernahm.

„Und wir danken dir, Chenoa.“, sagte er. „Wie immer hast du uns Barrameos Weisheit und Güte vermittelt. Auch Pagus sind wir treu verpflichtet. Der Planet und Bruder Barrameos, der uns hier ein gutes Leben ermöglicht.“ Auf einmal legte er seine Hand auf die Schulter des sehr viel größeren Kiemenmannes, der neben ihm saß. Lando fühlte sich im Nu unwohl, weil es ihm gefallen hatte, Chenoa zuzuhören und er nicht damit gerechnet hätte, erneut wieder in den Fokus gerückt zu werden. Gedanklich war er gerade wieder in der magischen Welt der Planetengötter.

Chuchip sagte: „Barrameo hat uns einen Kiemenmann geschickt. Dieser Mann hat uns im Sommer Meeresfische geschenkt. Obwohl wir Magenas normalerweise nicht in Kiemenmenschen hineinblicken können, so ist es mir doch gelungen!“ Bedeutungsvoll sah er die Seher und die anderen Clanmitglieder an. Chenoas verzog ihr faltiges Gesicht und schien innerlich zu fluchen. Dann nahm Chuchip seine Hand von Landos Schulter und wandte sich ihm zu. „Sag mir, Hutmann, stammst du aus einer Familie mit Kiemenmenschen?“

„Ja, natürlich!“ Verunsichert schaute er in die Runde. Dann korrigierte er sich: „Zumindest mein Vater und seine Familie sind Kiemenmenschen. Meine Mutter ist eine Frau aus dem Süden, aus Süd-Varan. Sie hat keine Kiemen.“

Erleichtert lächelte der Clanführer. „Das kann erklären, warum ich dich im Traum gesehen habe und warum ich eine kurze Vision empfangen konnte, als du hier eingetroffen bist! Zu einem Teil bist du also auch ein normaler Mensch ohne Kiemen.“


Erwartungsvoll warteten nun alle Trohpa auf die Schilderung von Chuchips Vision. Der kleine Kiruan, der es nicht mehr aushalten konnte, fragte: „Was hast du denn gesehen, Chuchip?“ Daraufhin sah seine Mutter ihn mahnend an. Der Anführer überlegte eine Weile. Endlich sagte er: „Der große Hutmann trug eine Bleuelschlange um den Hals.“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Das Zeichen eines Heilers.“, erklärte er Lando und allen anderen, die nicht wussten, was diese Vision zu bedeuten hatte.

„Hat er deshalb den Schlangenbiss überlebt?“, wollte der Wächter Bekmo wissen.

„Lass ihn weitersprechen!“, befahl ihm Slorra. 

Chuchips konzentriertes Gesicht erinnerte Lando an Aponi. Seine braunen Augen sprühten vor Energie und sein wohlgeformter Mund war auch dann noch ein wenig geöffnet, wenn er schwieg. Es war, als würde er die ganze Zeit über kommunizieren und als wäre sogar die Luft, die ihn umgab, magisch aufgeladen.   

„Ich habe auch noch etwas Anderes gesehen, es war eine Zukunftsvision: Boddrunko hat ihn herausgefordert!“ Jetzt wurde es so still, dass nur noch das Knacken der Holzscheite im Feuer zu hören war.

„Und der Kiemenmann hat es überlebt!“

„Niemals.“, äußerte Bekmo spontan. Auch andere Trohpa konnten dies nicht glauben, trauten sich jedoch nicht, etwas gegen die Vision ihres Clanführers zu sagen. Wütend starrte der Wächter Slorra den Eindringling an. Es war für ihn wirklich unvorstellbar, dass dieser dünne große Mann aus der Küstenstadt, der geschwächt vom Schlangenbiss ganz bleich neben Chuchip saß und nun seinen Teebecher neben dem Feuer abstellte, den schlimmsten aller Dämonen besiegen könnte. So, wie er sich an seinen Kiemen kratzte und kurz darauf mit einer verlegenen Geste seinen großen Rangerhut zurechtrückte, wirkte er auf ihn eher wie ein naiver Schwächling. Sämtliche der hier versammelten Dschungelbewohner hatten allesamt mehr Tiere erlegt und mehr Gefahren überstanden hatten als er! Wie sollte ein solcher langer Lulatsch Boddrunko besiegen können? Ein Mann vom Meer, der hier wahrscheinlich nur nach Aponi suchte, weil es in Ostink keine schönen Frauen gab!?


„Und ich sah, dass dieser große Kiemenmann nicht ohne Grund zu uns gekommen ist. Er wird mir beim Heilen helfen. Er wird unser neuer Bewahrer sein! Dieser Mann hier wird unsere magischen Rezepte hüten, damit sie nicht verloren gehen.“


Die erstarrten Gesichter der Clanmitglieder waren auf Lando gerichtet. In ihren Mienen lag erneut Entsetzten und Unverständnis. Nur einige wenige Trohpa wirkten sichtlich erfreut und sahen ihn an wie einen vom Wassergott Barrameo persönlich entsandten Retter und Heilsbringer.

„Warum sollten unsere magischen Rezepte verloren gehen?“, warf die Seherin Isdarra ein. Die alte Chenoa, deren Stimme vom vielen Erzählen ganz rau geworden war, pflichtete ihr bei: „Wir können gut genug allein auf unseren magischen Wissensschatz aufpassen!“

„Lasst uns später darüber sprechen! Heute wollen wir Barrameo danken und unsere Angeln vorbereiten. Der Kiemenmann wird uns morgen am Slómo helfen.“


Den Wächtern Chuchips sowie den Seherinnen Chenoa und Isdarra war anzumerken, wie sehr es ihnen missfiel, dass der Fremde Trohpadi angeln durfte. Sie waren der Meinung, dass nur ihnen als Magenas dieses Privileg zustand. Der kleine Kiruan und einige andere Kinder, die den großen blonden Mann wie einen exotischen Helden bewunderten, jubelten laut auf. Eine andere Frau, deren Namen Lando sich nicht gemerkt hatte, lächelte ihn freundlich an und sagte ehrfürchtig: „Barrameo ist nun bei uns!“ „Er wird Boddrunko besiegen.“, nuschelte ein junger Jäger, der an einer Mondtnuss lutschte.

Chuchip gab das Zeichen und sofort begannen die Musiker mit ihrem Einsatz. Mit Trommeln, Flöten und Saiteninstrumenten, die in ihrer Form und Handhabung ganz neu für Lando waren, weil sie nicht den Gitarren Ostinks entsprachen, spielten sie eine für seine Ohren ungewohnt klingende Melodie. Mitunter hörte es sich an, als würden Steine ins Wasser fallen oder Affen kreischen. Beim Zuhören erinnerten ihn die heiseren Laute der Flöten an das Krächzen von Papageien oder an Flügelschläge und die schnellen Fingerschläge auf den Trommeln ähnelten dem Geräusch von Tausenden von Regentropfen auf hartem Boden. Die Magenas fingen an zu singen und zu tanzen. Einige der Kinder spielten mit kleinen Schiffchen am Wasserbecken.


Chuchip zog Lando am Ärmel und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Er erhob sich schwerfällig und begleitete den Clanführer. In dessen Hütte angekommen, bat Chuchip ihn, sich zu setzen. Während draußen gefeiert wurde, spürte Lando sofort, dass dem Clanführer noch gar nicht richtig nach Feiern zumute war. Landos Rücken schmerzte ihn, das ewige Sitzen auf dem Boden war noch immer gewöhnungsbedürftig für ihn, obwohl die Felle hier wesentlich weicher waren als am Feuer. Er benahm sich nun wie die anderen Magenas und wartete auf das, was Chuchip ihm mitzuteilen hatte. Für einen kurzen Moment lang dachte er daran, dass er genau solch eine Situation nie wieder hatte erleben wollen. Er hatte nie wieder zu einem Chef, wie damals zu seinem Vater, zitiert werden wollen, um Moralpredigten zu hören oder sich ihm unterordnen zu müssen. Natürlich war Aponis Vater nicht vergleichbar mit William, er maß weniger als die Hälfte des großen Kiemenmannes und Fischhändlers und hatte Zugang zu Geisterwelten, zu Magie und zu einer magischen Heilkunst. Gegensätzlicher hätten die beiden nicht sein können.


Chuchip überreichte ihm einen kleinen Beutel. Darin befanden sich Bentzonüsse. Da er dachte, es wäre unhöflich, abzulehnen, nahm Lando eine davon und steckte sie sich in den Mund. Während sich der holzige Geschmack der halluzinogenen Nuss auf seiner Zunge ausbreitete, sah er seinem Gegenüber dabei zu, wie auch er sich eine davon in den Mund steckte. Dann fragte der Clanführer ihn mit gerundeter Wange: „War dir das, was Chenoa erzählt hat, vertraut?“

„Nicht alles. Ich kannte natürlich Barremeo und die Entstehung der Planeten, die Mythologie der Trohpa, aber ich wusste nicht, dass er die Trohpadi und die Eidechsen erschaffen hat.“

„Und uns! ... Ich schätze die Meerestiere und ich schätze auch die Kiemenmenschen. Es hat sich nur bisher nie einer zu uns verirrt! Ich hätte jemanden wie dich schon früher in unseren Clan gelassen. Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich von einem Mann aus dem Meer geträumt, der über den Slómo zu uns kommt. Ich denke, der letzte Sommer war ein Zeichen Barrameos!“

 Es ärgerte Lando, dass Chuchip immer noch nicht den Namen seiner Tochter erwähnte. Warum konnte er ihm nicht sagen, dass er sich darüber freute, dass Aponi ihn am Slómo getroffen hatte und dass er dank dieser Begegnung nun hier war? Doch auch er hielt sich jetzt an das ungeschriebene Gesetz, nicht den Namen einer Magena zu erwähnen, die noch nicht von ihrer Reifeprüfung als Jägerin zurück war. Er lutschte an der Nuss und nickte. Chuchip sah ihn jetzt so eindringlich und auch freundlich an, dass er sich fragte, ob sich bereits eine Wirkung der berauschenden Nuss bei ihm zeigte.


„Nicht alle Wesen, die von Barrameo und Pagus erschaffen worden sind, müssen über drei Augen verfügen, um etwas Großes zu bewirken und Zugang zur Magie zu haben! Viele unserer Magenas können ihr drittes Auge gar nicht benutzen. Sie wissen nicht, damit umzugehen.“ Seine Stimme wurde weicher. „Aber du weißt vielleicht, was ich meine, wenn ich dir sage, dass es immer schon Verbindungen gegeben hat, die neue und andere Menschen hervorgebracht haben. Dein Vater ist ein Kiemenmann und deine Mutter eine Frau aus Süd-Varan. Du hast Kiemen, aber du willst nicht am Meer leben. Genauso gibt es auch Menschen, die von Drittaugen abstammen und nicht damit in die Vergangenheit oder in die Zukunft sehen können. Und es gibt noch viel mehr Besonderheiten. Ich sehe etwas in dir, was dir selbst noch unbekannt ist, Hutmann!“


„Chuchip, ich befürchte, dass du etwas in mir siehst, was gar nicht da ist. Entschuldige bitte, ich will nicht an deiner Seherkraft zweifeln, aber ich bin wirklich nur hierhergekommen, um…“

„Ich weiß. Erwähne nicht ihren Namen!“

Sofort schwieg Lando wieder.

„Du bist gerade wie ein loser Samen im Wind. Aber du stammst von einem guten Baum ab und sehr gute Winde tragen dich. Du darfst dich nicht weigern, ihnen zu folgen! Und du musst begreifen, dass du eigentlich schon gelandet bist. Du bist hier, in dem Boden und an der Stelle, an der Barrameo und Pagus dich gewollt haben!"


„Das fällt mir in der Tat sehr schwer. Es ist alles so neu für mich. Aber sehr gern würde ich dir beim Heilen helfen. Du hast es richtig erkannt: Ich habe mich schon immer mit Pflanzen und mit Medizin beschäftigt und mit meinem Freund gemeinsam versucht, aus Heilkräutern neue Medikamente herzustellen. Chuchip…“ Jetzt wurde ihm ein wenig schwindelig. Der Clanführer verwandelte sich hin und wieder in Aponi, sobald er zu ihm blickte, „…ich danke dir dafür, dass du mir das Leben gerettet hast!“


Unerwarteterweise lachte Chuchip laut auf: „Du rettest uns!“, stieß er aus. Dann lehnte er sich weit zu Lando vor. „Nur dir sage ich jetzt, was ich wirklich gesehen habe: Ich habe in deiner Stirn ein drittes Auge gesehen. Und ich bin mir sicher, dass du über Magena-Fähigkeiten verfügst! Das Problem ist nur, dass du dir dessen nicht bewusst bist. Du hast unter den falschen Menschen gelebt. Du bist eigentlich einer von uns. Du bist einer der ganz wenigen Menschen auf Pagus, die über ein verborgenes drittes Auge verfügen.“


Daraufhin hustete Lando, weil er sich fast an der Mondnuss verschluckt hätte. Chuchip fuhr fort: „Du und deine Nachfahren, ihr werdet das magische Wissen unseres Clans bewahren und es nutzen, um Boddrunko in seine Schranken zu weisen!“


Das war nun wirklich zu viel für Lando. Er sah den auf einmal kreisenden Kopf Chuchips vor sich. Anschließend riss er sich zusammen und presste den Daumen und den Zeigefinger seiner rechten Hand an seine Nasenwurzel. Erneut sah er hoch. Im Nu nahm er ihn wieder ganz klar wahr. Lando sah den Trohpa an und fragte sich, ob er all das hier wirklich gerade erlebte oder nur mal wieder einen irren Traum hatte.


„Du denkst, ihr teile dir gerade etwas Gutes mit, etwas, was zu viel des Guten für dich ist? Aber dem ist nicht so, Hutmann! Auch wenn ich mich über deine Anwesenheit hier jetzt sehr freue und möchte, dass du im Clan bleibst, ich habe dich woanders gesehen! Und ich weiß, dass du mit deinem verborgenen dritten Auge sehr viel auszustehen haben wirst. Du und deine Nachfahren.“


„Was bedeutet das?“ Lando spürte, dass er sich bald nicht mehr aufrecht halten können würde.

„Das bedeutet, dass deine Reise noch nicht einmal begonnen hat! Du bist der erste kleine Kieselstein einer Lawine.“


Jetzt war es soweit. Die Nuss war so klein wie eine winzige Pyllbackokern geworden und er bekam Halluzinationen. Lando sah, wie die Wand der Hütte verschwand und sich ein großer Sternenhimmel über ihm ausbreitete. Aus der Mitte des Himmels entsprang eine große helle Seerose. Danach verpuffte sie wie ein Feuerwerkskörper. Anschließend spürte er, wie er in einen Schlund fiel und dann erblickte er die schwangere Paola. Ihr Bauch sah aus wie ein Kuppelhaus. Gerade, als er durch die durchsichtige Wand in sie hineinschauen wollte, verschwand die Vision wieder und er saß wieder vor dem Clanführer der Magenas. Auch dieser schien in seinen Gedanken und inneren Bildern unterwegs zu sein. Doch seine Stimme klang klar und auch sein Blick war direkt in die Augen seines Gegenübers gerichtet.

 „Nur macht es mir zu schaffen, dass ich dich als einen Reisenden sehe. Bist du hier nur auf der Durchreise? Willst du weiterziehen?“

Lando verneinte und vermied es erneut, Aponi zu erwähnen.

„Wenn du wirklich bei uns bleiben willst, dann werde ich veranlassen, dass du hier aufgenommen wirst.“

Nachdenklich fügte er hinzu: „Vielleicht bedeutet deine Reise auch, dass du innerlich wachsen wirst. In unserem Clan wirst du die Möglichkeit dazu haben. Ich werde dich weiterhin Vasno und Isdarra anvertrauen.“ Plötzlich lächelte Chuchip und erklärte strahlend: „Dass die heiligen Eidechsen dich lieben, hat Kiruan mir bereits gesagt. In der Höhle unserer Vorfahren haben sie dich vor einer Schlange gewarnt! Und kurz darauf hast du Kiruan vor einem Ohrenkaiman gerettet. Du hast einen Zugang zu uns! Chenoa wollte es nicht sagen und sie will es auch nicht wahrhaben, aber du bist ein guter Entsandter Barrameos.“


Kurz zuvor war Lando alles noch sehr mystisch verklärt und abwegig erschienen, doch in diesem Moment spürte er sich – wahrscheinlich dank der Bentzonuss (auch 'Mondtnuss' genannt) – wirklich wie ein Bote des Wassergottes. Er drückte sein Kreuz durch. Dann lachte er und schüttelte seinen Kopf. Irritiert fragte ihn der Clanführer, was daran so lustig wäre. Er konnte sich kaum wieder einbekommen. Schließlich erklärte er Chuchip: „Ich habe immer Angst vor dem Meer gehabt.“


„Warum?“ Genau wie Aponi war er bei eigentlich doch belustigenden Aussagen überhaupt nicht albern, sondern im Gegenteil, sehr ernst. Das bewog ihn nun dazu, auch wieder ernst zu antworten: „Ich habe nicht eine einzige Mondmuschel vom

Meeresboden geholt.“ Bevor er weiter schildern konnte, warum seine Fantasie und ein Vorfall in seiner Kindheit ihn nur in dieser Angst bestärkt hatten, äußerte der Clanführer: „Du hast etwas Gutes getan! Die Herzen und Seelen mancher Mondmuscheln sollten nicht aus dem Meeresboden gerissen werden! In ihnen wohnen gute Geister. Und du hast Boddrunkos gespürt. Das ist gut, weil du ihn dann auch in Zukunft erkennen wirst. Hier am Slómo solltest du dich auch in Acht nehmen! Sobald du Gefahr spürst, musst du handeln!“

Daraufhin reichte er ihm noch eine Mondtnuss. Obwohl Lando diese ablehnen wollte, nahm er sie an, weil ihm Chuchip unglaublich gut gefiel und er sich mit ihm vorkam wie mit Aponi. Genauso, wie dieses Gespräch verlief, so hatte er sich auch mit ihr unterhalten. Er hatte gescherzt und auch mal seine Schwäche offenbart und sie war dann ganz ernst auf den Kern der Sache gekommen, hatte ihm eine andere Sichtweise eröffnet und ihm gezeigt, dass das, was er für eine Schwäche gehalten hatte, eine Stärke von ihm war. Ihm würde nichts geschehen, wenn er noch eine zweite dieser holzigen Kapseln lutschen würde. Notfalls würde er hier schlafen, was immer wahrscheinlicher wurde, weil er keine Energie mehr dazu hatte, sich draußen ins Getümmel zu stürzen.  

„Du hast gehört, was ich dir gesagt habe?“, fragte Chuchip nach. Lando nickte. Weil der Clanführer es anscheinend bestätigt bekommen wollte, sagte Lando dann: „Du siehst in mir einen guten Mann, einen, der euch von Barrameo geschickt worden ist. Du meinst, ich könnte auch…“

„Das freut mich. Du hast mich verstanden.“, unterbrach der

Trohpa ihn. „Sag mir, empfängt ein Kiemenmann wie du auch Visionen beim Lutschen von Bentzonüssen?“

 Erst jetzt ging ihm ein Licht auf. Sein Gegenüber wollte erfahren, was er wahrnahm und ob er Halluzinationen, Bilder oder Visionen empfing. Erwartete er etwa, dass ihm der Wassergott Barrameo höchstpersönlich erschien?

„Ja, ich habe Einiges gesehen, seit wir hier sitzen.“

„Magst du es mir sagen?“

„Ich habe Aponis Gesicht gesehen.“

Chuchip zuckte zurück.

„Entschuldige, ich habe ganz vergessen, dass ich nicht über sie sprechen darf.“

„Was noch? Was hast du noch gesehen?“

Er hatte die schwangere Paola gesehen. Aber auch das konnte er ihm nicht sagen. Lando biss sich auf dich Zunge. Nun hallte die Stimme des Clanführers in seinem Ohr, der im Nu das Interesse an einer Antwort seiner soeben gestellten Frage verloren hatte, weil auch er in seiner eigenen Gedankenwelt unterwegs war. Anscheinend ging es darin um den Fischfang der Trohpadi, weil Chuchip etwas über die drei Augen der Fische murmelte.

Lando kam es so vor, als könnte er auf Kommando neue Visionen empfangen. Aus dem Boden wuchsen in Sekundenschnelle tropische Pflanzen. Er hörte Hubschrauber über sich und versteckte sich vor ihren Scheinwerfern unter überdimensionalen Orchideen. Die Lichter aus dem Himmel beleuchteten die Blüten, aber er blieb in Sicherheit und in ihrem Schatten. Weitere Scheinwerfer kamen nun von der Seite. Das waren Eindringlinge, böse Geister Boddrunkos, er spürte es ganz genau! Plötzlich war er ein Wächter, ein Krieger der Magenas. Sonderbarerweise stand er nun auf einer riesigen fliegenden Mondmuschel, stampfte mit einer Harpune darauf und rief: „Im Namen Barrameos: Keinen Schritt weiter!“

Dann flog er hoch hinaus über die roten Felsen und landete schließlich wieder in der Hütte vor Chuchip. Die wunderschönen Riesenorchideen schrumpften schnell wieder, bis sie sich schließlich ganz in den Boden unter den Fellen zurückzogen.


Chuchip hatte sein Stirnband abgenommen. Sein drittes Auge sah Lando an und in ihn hinein. Langsam öffnete er seine anderen beiden Augen. Drei Augen sahen ihn an. Als müsste er als gehorsamer Krieger seinem Häuptling nun Bericht erstatten, kamen die Worte wie von selbst und ganz ohne darüber nachzudenken aus ihm heraus: „Ich habe Lichter im Dschungel gesehen.“

Immer noch drei Augen.

„Aber sie werden nicht zu uns kommen. Sie werden uns nicht finden. Sie werden mich nicht finden.“ 

 Zufrieden verband Chuchip sich sein Stirnauge wieder. Dann reichte er ihm seine Hand und legte kurz darauf auch seine zweite Hand auf Landos. Dieser Kontakt fühlte sich so gut, weich und warm an, dass Lando glücklich lächelte.

Chuchip sagte: „Gut. Ich danke dir! Nun erhole dich! Du befindest dich jetzt im Körper unseres Clans und er wird dich neu gebären. Bald wirst du ein neuer Mensch sein und einer von uns! Aber nun schlaf! Morgen wirst du beim Fischen gebraucht!“


Lando legte sich hin und ließ sich von ihm zudecken. Er dachte, dass Chuchip in seiner überbordenden Fürsorglichkeit nun die ganze Nacht über bei ihm bleiben würde, doch er hörte, wie er die Hütte verließ und Bekmo und Slorra befahl, gut auf ihn aufzupassen. „Wir müssen auf der Hut sein!“, flüsterte er.


Lando gab sich alle Mühe, zwischen der wirren Musik noch weiter herauszuhören, was Chuchip sagte. Auf einmal hörte er Chenoas Stimme, konnte sie aber nicht verstehen. Den Clanführer jedoch vernahm er. Er äußerte laut: „Ich habe mich nicht geirrt!“


Mitten in der Nacht während des Festes kehrte Chuchip noch einmal in seine Hütte zurück, in der Lando seit Stunden schlief. Er strich ihm über seine blonden langen Haare, die sich so weich anfühlten wie das Moos an den Pyllbacko-Bäumen.


„Aponi liebt dich. Sie wird wiederkommen“, flüsterte er. Dann stand er auf, um als Erster seines Clans in der Barrameo-Nacht im Slómo zu baden. Seine Wächter ließen ihn nicht aus den Augen, während er seine Arme ausbreitete und dann seinen kleinen stämmigen Körper in den Fluss hineintauchte. Chuchip legte sich rücklings aufs Wasser, schaute zu den Sternen und einem der nun sichtbaren Monde hinauf. An seiner linken Hand spürte er die Blätter einer Seerose. „Barrameo, ich danke dir! Pass auf ihn auf! Auf deinen Kiemenmann! Und gib mir die Kraft dazu, meinen Clan von ihm zu überzeugen, Barrameo!“ Nun flüsterte er nicht mehr, sondern betete nur noch im Stillen für Aponi. Er bat die Sonnengötter, sie heil und unversehrt zurück zu seinem Clan zu geleiten und sie zu dem Kiemenmann und dem Bewahrer Lando zu führen. Er wusste, dass das richtig war. Nachdem er aus dem Flusswasser gestiegen war und sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, zückte Slorra auf einmal sein Messer. Aus dem Gebüsch trat Isdarra hervor.

„Was tust du hier?“, fragte der Wächter sie empört.

„Ich habe nur zu Barrameo gebetet“, erwiderte die Seherin schnippisch. Dann sah sie den Clanführer vorwurfsvoll an. Schließlich drehte sie sich abrupt um und ging zurück zum Dorf. Das Lagerfeuer glühte nur noch, alle anderen schliefen.

Weder Slorra noch Bekmo wagten es, ein Wort an Chuchip zu richten. Sie positionierten sich wie jede Nacht wieder vor seiner Hütte. Der Clanführer der Magenas legte sich an die andere Seite gegenüber von Lando und betrachtete ihn lange. Dann schlief er mit einem Lächeln auf seinem Gesicht ein. 


Lando-Kapitel - Blogbeitrag vom 07.11.2024 von Bente Amlandt   

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