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7. Die Augen der Seelenräuber

Was aus Zumsa an Land wird und wie eine alte Geschichte Lando aufwühlt.


Hartwigs Terrasse in der Südbucht. Hier haben sich Paul (Zumsa) und Ella kennengelernt.


Aureus war gerade untergegangen, als Paul endlich Ulla in die Arme schloss. Seit ihrer ersten Begegnung im Haus des Klippenwächters war es um ihn geschehen. Heute wirkte sie verstört. Sie kam direkt von ihrer Putzschicht in Dr. Clariggs Haus. »Was ist los?«, fragte er sie. Umständlich nahm sie neben ihm auf der Decke Platz. Dann sah sich die schlanke Kiemenfrau nervös um. »Wollen wir nicht lieber zur Südbucht zurückgehen? Ich war heute Abend noch nicht bei Charlotte.« »Deine Schwester kann auch einen Abend ohne dich auskommen. Außerdem ist Hartwig schon zu Hause.« »Vielleicht hast du Recht.«

Plötzlich begann sie zu weinen. Zumsa, der sich inzwischen an seinen neuen Namen »Paul« gewöhnt hatte, hatte jahrelang weinende Frauen auf der »Spion« gesehen, doch sie waren Geiseln gewesen und er hatte sich aus Selbstschutz für keine von ihnen interessiert. Aber jetzt wurde er wütend, dass irgendetwas, irgendjemand seine Ulla zum Weinen brachte.

»Was ist los? Sag es mir!« Er sah sie an, dann ergänzte er: »Bitte!« Schließlich erzählte sie ihm stockend: »Mir ist eine seiner Glaskaraffen aus den Fingern gerutscht. Der ganze Aurea ist auf den Boden gelaufen und über mein Kleid. Nein, du siehst es nicht mehr, es ist eh zu dunkel. Ich habe es ja gleich ausgewaschen. Aber genau in dem Moment stand er auf einmal im Badezimmer.« Sie schluchzte.

»Dieser Mistkerl! Hat er dich etwa angefasst?«

Ulla schüttelte den Kopf. Sie drückte sich an ihn. Dann löste sie sich wieder. »Der Aurea hat dreihundert Tudo gekostet.« Sie schob den rechten Ärmel ihres Kleids hoch.

»Was zum Henker ist das?«, entfuhr es ihm. Zumsa merkte, dass er wieder so schroff sprach wie früher unter Piraten und riss sich zusammen. Nicht zum ersten Mal starrte Ulla ihn verschreckt an. Vor allem musterte sie die punktförmigen Tätowierungen auf seinem Hals und an seinen Schläfen, die im Licht der Laterne wie kleine Fliegen wirkten.

Er betrachtete die Pflaster, dann riss er eins nach dem anderen ab. Sie zuckte zusammen, vertraute ihm aber. »Hautsalben«, flüsterte sie. Beide schauten auf die fünf unterschiedlich geröteten und geschwollenen Stellen an Ullas Unterarm, auf die Dr. Clariggs ihr die soeben entfernten Teststreifen geklebt hatte.

»Er benutzt dich für so etwas? Für Tests?«

»Ja, Kiemenmenschen reagieren anders darauf. Es brennt sehr. Die eine Stelle juckt auch ziemlich.« »Mistkerl!«, fluchte er. Es war das einzige Schimpf-wort, das er noch angemessen genug für Ullas liebe Gegenwart hielt. Dann holte er eine Wasserflasche aus seinem Picknickkorb und schüttete sie über ihren Arm. Sie stöhnte auf, genoss jedoch die Kühlung. »Du gehst nie wieder zu ihm, hörst du?« »Aber Paul, ich muss doch meine Schulden bei ihm abarbeiten. Wenn ich es nicht tue, dann …« Plötzlich umarmte er sie und küsste sie. »Kein Wort mehr! Komm, lass uns zurück! Ich will dir etwas zeigen.«

Verwundert folgte sie ihm. Zum ersten Mal nahm er ihre Hand und hielt sie sogar auf dem Klippenweg fest. Es war ihm egal, dass sie viel größer war als er, der Nicht-Kiemenmensch. Hätte auch nur einer der ihnen entgegenkommenden Passanten sie merkwürdig angesehen, so hätte er ihn verprügelt, so viel stand fest. Niemand wagte es, denn der Blick dieses ehemaligen Piraten war furchteinflößend. Ulla drückte tapfer seine Hand. Soeben waren sie an der Stelle vorbeigegangen, an der ihr erster Mann ums Leben gekommen war.

Kurz vor der Windbucht fragte sie Paul: »Hattest du eigentlich eine Frau in Süd-Varan?«

»Nein.« Er zog sie weiter. Der Picknickkorb schlen-kerte in seiner Hand. Erneut blieb sie stehen. »Was ist?«, wollte er wissen.

»Deine Tätowierungen. Du hast mir noch immer nicht gesagt, was sie bedeuten.« »Das sage ich dir gleich«, erwiderte er. Nachdem er sie bis zu dem kleinen weißen Fischerhaus mit den blauen Fenster-läden geführt hatte, blieb er stehen. »Na, was sagst du? Es ist nicht so mittendrin, hier könnten wir sogar einen Gemüsegarten anlegen!«, erklärte er ihr.

»Aber Paul.« Sie sah zum Haus, dann wieder zu ihm. »Das ist wundervoll. Aber wir kennen uns doch erst ein paar Tage.«

»So? Und wie lange haben wir aufeinander gewartet? Wie lange bist du schon allein?«

Ulla senkte ihren Blick. Die Erlebnisse dieses Tages und Abends überforderten sie. Jetzt löste sie ihre Hand von seiner. »Lass uns morgen weitersprechen, ich muss schlafen gehen.« Er zog sie noch einmal am Arm zu sich. »Ich mache keine Experimente!«, sagte er. »Und, wenn du es wirklich wissen willst: die Tätowierungen, sie…« Ihm fehlten die Worte. »Bitte sprich weiter!«, forderte Ulla ihn auf. »Paul?«

»Sie stammen aus einer üblen Zeit. Ich kann wirklich nicht darüber sprechen.«

Mitfühlend fragte Ulla ihn nun: »Warst du im Gefängnis?«

Das kam ihm so zutreffend zu, dass er nickte. Sie umarmte ihn, senkte ihren Kopf zu seinem rechten Ohr herab und flüsterte: »Das habe ich mir doch die ganze Zeit gedacht!« Sie fragte ihn: »Was hast du getan? Gestohlen?«

Erneut nickte er. Sie atmete laut ein und aus. Er liebte ihre weichen blonden Haare und ihren großen schlanken Körper. Jetzt roch er an der Haut über ihrem Busen und war kurz davor, sie dort zu küssen. Dort und überall. Aber sie war ganz in Gedanken und wich erneut einen Schritt zurück. Ulla versicherte ihm: »Du musst dich nicht dafür schämen! Ich halte zu dir!«

So etwas Wunderbares hatte Zumsa alias Paul noch nie gehört. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Ulla. Danach lächelte sie und meinte: »Du hast Recht, in unserem Alter sollte man keine Zeit mehr verlieren. Ab jetzt werde ich jeden möglichen Tudo für dieses schöne Haus sparen!«

 

Hartwig setzte sich am nächsten Abend zu Paul auf die Terrasse. Ein leichter Wind wehte, doch es war immer noch warm. Charlotte und die Kinder schliefen bereits. Hartwig fragte: »Warum haben sie dich über Bord geworfen?«

Erstaunt sah Paul ihn an. »Ich denke, ich soll nicht darüber sprechen?!«

»Doch. Jetzt ja!«, meinte Hartwig.

»Sie brauchten mich nicht mehr. Sie haben einen neuen Koch.« Nach einer kurzen Pause fügte er hin-zu: »Und ein neues Schiff. Die ‚Spion‘ liegt irgendwo auf dem Meeresboden. Es ist ein Wunder, dass du das Feuer nicht gesehen hast, wo du doch immer auf deinem Posten sitzt.« »Haben sie die Jacht von Frances Reiss?« »

So ist es!« Zumsa seufzte. »Blendo kidnappt immer noch Menschen. Darauf hat er sich spezialisiert. Er hat nun sogar einen Toschgab-Experten an Bord, der gezielt reiche Leute in den Küstenstädten heraus-sucht. Dann legen sie nachts an und fort sind sie wieder, mit einem oder zwei Entführten. Sie verlangen per Toschgab unglaublich hohe Tudosummen für ihre Geiseln.« »Was zum Aureus will Blendo denn mit Tudo?« Hartwig konnte es kaum glauben. Paul sprach leise weiter: »Er kauft Land. Und dann verkauft er es wieder. Häufig fiel der Name Reiss. General Reiss.«

»Blendo Bottjos arbeitet mit dem Verteidigungs-minister Süd-Varans zusammen?« Hartwig spuckte aus. Für so schlau hätte er den Albino nie gehalten. Lizzy und er hatten ihn immer nur »das lange dünne Elend« genannt. Blendo hatte stets nur Rattkofs Befehle ausgeführt, bis er dann selbst das Kommando über die »Spion« übernommen hatte.

»Hartwig, Süd-Varan ist ein Pulverfass! Dieser General könnte die Regierung stürzen. Er kauft mit Blendos Hilfe sämtlichen Bauern ihr Land ab und verdoppelt die Ausgaben für sein Militär monatlich. Ihm ist jedes Mittel recht.«

»Aber was ist mit der Jacht? Gehörte sie nicht seinem Neffen?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht schuldete er Blendo noch etwas. Auf alle Fälle genießt Blendo mit seiner Crew im Süden Narrenfreiheit, darauf kannst du Gift nehmen! Oder was meinst du, warum die Luxusyacht noch nicht gefunden worden ist? Die haben eine große Flotte und die Süd-Varaner gelten als die besten Seemänner ganz Rodiwanas.« Daraufhin widersprach ihm Hartwig: »Die besten Seemänner, das sind immer noch die Nordmenschen. Aber es stimmt. Seit die Jacht verschwunden ist, sucht hier kaum noch ein Süd-Varaner danach«, ergänzte er.

Paul nickte. »Übrigens sind wirklich alle davon ausgegangen, dass du tot bist. Und mich werden sie auch für tot halten.« Er grinste. »Wer konnte denn ahnen, dass ausgerechnet du mich rettest, Wulu?«

»Pssst!« »Entschuldige.« Paul nahm die Pfeife entgegen. Einige Minuten später fragte er: »Sollten wir jemandem Bescheid geben? In Ostink oder Sîlard?«

Hartwig schüttelte den Kopf. »Als ob uns beiden jemand glauben würde! Einem Klippenwächter und einem Piraten, einem angeblichen Schiffbrüchigen! Nein, wir können einfach nur abwarten und hoffen, dass wir hier weiterhin unsere Ruhe haben. Die ‚Spion‘ ist wirklich gesunken?«

»Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Es war ein Fest für mich. Allerdings waren die Blut-schattenfische es nicht.«

Hartwig kannte die Narben an Pauls Beinen und sah ihn mitfühlend an. Aber ein so vernarbtes Auge zu haben wie er, das war noch deutlich schlimmer, dachte er.

»Morgen koche ich für Ulla. Vielleicht übernachte ich auch bei ihr«, verkündete Paul auf einmal. Sein Ge-sicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an. Er stieß Hartwig in die Seite. »Sie ist eine Wucht!«

Kopfschüttelnd sagte er: »Spielt ja auch keine Rolle, dass sie größer ist als ich. Eine Kiemenfrau und ich, wer hätte das gedacht?« Er räusperte sich.

»Entschuldige, ich wollte nicht …«

»Schon gut. Ulla mag dich.« Hartwig war aufge-fallen, dass sie sich neuerdings zurechtmachte, bevor sie zu ihnen nach Hause kam. Sobald Paul in der Nähe war, wurde sie nervös und lachte ständig laut über seine Scherze. Sie zeigte ihm, wie man hier Mond-muscheln zubereitete und er weihte sie in das Geheimnis seiner Fischsuppe ein. Ullas erster Mann war vor fünfzehn Jahren bei einer Messerstecherei mit einem Sîlardi auf dem Klippenweg gestorben. Der namentlich nicht bekannte Städter ging straffrei aus. Sie hatte nicht einmal eine Witwenrente bekommen. Obwohl sie Charlotte ähnlichsah, so hatten die einsamen Jahre ihr einen verhärmten Zug um den Mund verliehen. Aber neuerdings sah sie wirklich bildschön aus, sobald Paul in Sichtweite war.


Paul fluchte plötzlich. »Zum Donner noch mal, am liebsten würde ich diesem Clariggs auflauern.« »Lass es!«, riet ihm Hartwig. »Sie muss doch nur noch bis zum Winter bei ihm arbeiten.« Paul gab Hartwig die Pfeife zurück, dann strich er sich über sein Kinn.

»Wusstest du, dass dieser verdammte Mistkerl sie für Medikamentenversuche missbraucht?«

Nach einer kurzen Pause erwiderte Hartwig.: »Ja. Die letzten Tabletten sind ihr gar nicht gut bekommen.«

»Tabletten? Er gibt ihr auch noch Tabletten?»

Paul sprang auf. »Du weißt davon? Und du lässt es zu? Sie ist doch immerhin deine Schwägerin!«

»Was soll ich tun? Ich habe ihm bereits die Nase gebrochen.« Er verschwieg ihm, dass er es gar nicht für so verkehrt hielt, Medikamente zu testen. Wie sollten die Kiemenmenschen sonst jemals erfahren, was wirklich wirkte? Dabei dachte er natürlich nur an seine Frau. »Du weckst die Kinder auf! Nun setz dich wieder!« Sie schwiegen eine Weile.

»Ich werde das Ganze nicht so hinnehmen wie du. Jetzt bin ich hier und mein eigener Herr, verstehst du? Ich will auch nicht, dass Ulla weiterhin so von diesem idiotischen Arzt gequält wird!«

»Du kennst meine Bedingungen. Wenn du hier Ärger machst, dann werde ich dich nicht mehr be-schützen! Bis jetzt hat alles ganz gut geklappt, aber halte dich gefälligst zurück und misch dich nicht ein!«

Wütend entgegnete Paul ihm: »Ich mische mich nicht ein, ich bin mittendrin! Falls du es noch nicht be-merkt haben solltest. Du übrigens auch, was unsere gemeinsame Vergangenheit betrifft. Ich kann auch reden. Ich kann deiner Frau, deinen Kindern und ganz Ostink erzählen, wer du wirklich bist und wo du großgeworden bist. Na? Willst du mir immer noch drohen, Wulu?« »Genug!« Hartwig knallte die Pfeife auf den Tisch. Dann sagte Zumsa-Paul: »Komm schon, wir haben die ‚Spion‘ überlebt, wir beide! Lass uns hier jetzt einfach ein gutes Leben haben. Ich komme dir nicht in die Quere und du mir nicht.

Alles, was Ulla und mich betrifft, regle ich allein, ohne dich. Du wirst schon sehen!«

»Und? Wie willst du sie versorgen? Hast du darüber mal nachgedacht? Hast du dich in einem Restaurant beworben?« »Du wirst es nicht glauben: In der Tat hat sich da etwas ergeben. Olaf hat mir angeboten, im ‚Fredo und Orileja‘ zu arbeiten. Wenn das gut klappt, dann könnte ich für Ulla und mich vielleicht bald ein Haus hier mieten und es später sogar kaufen.« Er strahlte. »Aber ich koche natürlich weiterhin für euch!«

Hartwig musterte ihn, ihm gefielen Pauls Pläne. Dann beugte er sich vor und reichte ihm die Hand. Anschließend sahen sie zu den beiden abnehmenden Monden hinauf.

»Sie hat mich gefragt, was meine Tätowierungen zu bedeuten haben. Jetzt denkt sie, ich war im Gefängnis. Für Diebstahl!« Plötzlich musste er so laut lachen, dass Hartwig ihm gegen das Schienbein trat und er sofort verstummte. Dennoch lächelte er. »Ulla fand das nicht schlimm. Ich glaube, das wird wirklich etwas mit uns! Ich musste wohl erst fünfundfünfzig Jahre alt werden, um zum ersten Mal in meinem Leben so etwas zu erleben.« Er räusperte sich. »Eine Frau an meiner Seite zu haben, meine ich.«

»Das freut mich für dich!«

Hartwig dachte an seine Frau Charlotte und hoffte, dass sie noch viele gemeinsame Jahre miteinander haben würden. Derzeit war sie zum Glück fieberfrei.

 

Lando saß abends allein an der Küste. Seit Hartwig den Mann von der Felseninsel bei sich aufgenommen hatte, fuhr er bereits nach dem Dienstschluss der Fischer nach Hause. Auch noch Wochen nach dem Diebstahl der Jacht patrouillierten zum Schutz der Küste genügend Küstenwache-Boote abends und nachts in der Tabée-Bucht. Gestern hatten sie östlich der Felseninsel ein großes Schiffswrack gefunden. Der Name war nicht mehr lesbar gewesen, weil das Schiff vor dem Untergang gebrannt hatte. Nun wusste er, dass Hartwig doch keine Notlüge benutzt hatte, sondern recht gehabt hatte: Paul war wirklich ein Schiffbrüchiger! Einige Muscheltaucher wie Jimmy und Tyron machten sich einen Spaß daraus, zu diesem Wrack zu tauchen, um es zu untersuchen und nach noch Verwertbarem Ausschau zu halten. Jimmy hatte eine Kiste mit sechs Flaschen Rum gefunden und Tyron etliche Säcke voller Mondnüsse. Diese waren natürlich nicht mehr genießbar, doch die Rumflaschen boten großen Anlass zum Jubeln. Vier der Flaschen verkaufte Jimmy Olaf im »Fredo und Orileja« für je hundert Tudo, die anderen beiden schenkte er heute Abend am Lagerfeuer aus. Sie saßen auf dem Hof der Firma hinter Lando. Er konnte sie lachen hören. Sogar Nico und Felix schenkten sie Rum ein. Lando war nicht danach, obwohl ihn ein Schluck vielleicht von innen erwärmt hätte. Es wurde merklich kühler. Nachdem er in seine Wohnung gegangen war, schaute er besorgt auf die Fahnen neben der Laterne.

Sie flatterten so wild wie lange nicht. Er hatte sogar Mühe, die Fensterläden zu schließen. Ab morgen könnten die Fischer nicht mehr drei Mal am Tag hinausfahren. Der Wind pfiff durch die Fenster. Heute schlief Lando unter zwei Decken.

 

Nach einer Orkanwarnung bekamen alle Arbeiter der Fjordt-Firma zwei Tage frei. Lando verbrachte den Nachmittag ausnahmsweise im Haus seiner Eltern. Er hatte ein Feuer im Kamin angezündet, seiner Mutter einen Azalfrucht-Tee zubereitet und blätterte nun in einem alten Sagen- und Geschichtenbuch aus Kindertagen. Nora besserte ihren Mondmuschelhut aus. Während sie nähte, bat sie ihn auf einmal darum, ihr doch etwas vorzulesen. Da William in seinem Büro war, willigte Lando ein. Seine Mutter hatte ihm früher die Sage »Finley und Orileja« aus diesem Buch vorgelesen. Erstaunt entdeckte er nun im Inhalts-verzeichnis einen Titel, hinter dem in Klammern »Das Drittauge« stand. Die Fensterläden klapperten so laut im Sturm, dass er noch einmal aufstand und sie fest schloss. Er hoffte, dass es in drei Tagen besser werden würde, weil er dann wieder zum Slómo reiten wollte. Dann begann er vorzulesen.



Arrgawuta (Das Drittauge)

 

Ravend war ein gieriger Mann, der nach Ruhm strebte und keinen Respekt vor Frauen hatte. Er nahm sie sich wie frische Früchte vom Baum und ließ sie danach achtlos liegen. Ihm ging es nur um sein eigenes Vergnügen. Eines Tages begegnete ihm während eines Vollmondfestes eine wunderschöne Fremde mit langen schwarzen Haaren, einem Stirnband und hasel-nussbraunen Augen. Ravend musste sie haben! Es gelang ihm, sie zu erobern und er verbrachte eine Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen jedoch jagte er sie fort, als er sah, dass sie ein drittes Auge in der Stirn hatte. Er beschimpfte sie und wollte wieder allein sein. Kurz darauf hatte er eine andere Frau bei sich.

Drei Wochen später ereigneten sich in seiner Familie Unglücksfälle, die ihn tief betrübten, weil Menschen, die ihm wichtig waren, plötzlich starben. Immer wieder träumte er von der Frau mit dem Stirnauge. Er war reich und hatte viel Macht, doch seine Seele konnte keine Ruhe finden, denn die wunderschöne Frau des Vollmondfestes war niemand anderes als die dreiäugige Arrgawuta gewesen, die Seelenjägerin des Dschungels. Arrgawuta verwandelte sich schnell in ein gigantisches Monster. Ihre Wut konnte die Erde spalten und ihre Angriffslust übertraf die aller erdenklichen Raubtiere. Sie kämpfte für alle, denen Unrecht geschehen war. Dafür raubte sie Seelen, auch die Seele Ravends. Sie nahm sie mit und warf sie den bösen Geistern des Dschungels zum Fraß vor. Dennoch zeigte sie sich nicht nur als ein Monster, denn sie gab Ravend noch eine zweite Chance. Sie legte ihm die Frucht der gemeinsamen Liebesnacht vor die Tür, damit er sich nun als verantwortungsvoll erweisen konnte. Doch als Ravend das dreiäugige Kind erblickte, ließ er es voller Ekel fortbringen und kümmerte sich nicht weiter darum.


Nachdem Arrgawuta davon erfahren hatte, schickte sie Blitze und Donner vom Himmel. Sie wurde so wütend, dass sie die bösen Geister des Dschungels um Hilfe bat, um gegen Ravend und seinen Clan vorzugehen. Die Geister schlugen ihr vor, diesen unehrenhaften Menschen Hungersnöte, Krankheiten, Raubtiere oder ein Feuer zu schicken. Doch Arrgawuta war das nicht genug. Sie stampfte immer wieder mit ihrem Fuß auf und schrie. Ihre Wut war so groß, dass die Kraft der Seelenjägerin sich verhundertfachte und die gesamte Erde unter ihr zu beben begann. Sie wollte Ravend und seinen Clan mit Naturkatastrophen bestrafen. Ihr dreiäugiges Kind jedoch sollte von einem guten Geist gerettet und verschont werden. Es sollte Gutes tun in einem neuen Clan und auf die guten Seelen achten. Die bösen hingegen sollte es verfluchen, damit Arrgawuta erneut erscheinen könnte, um ihnen ihre Seelen zu rauben und sie zu bestrafen. Und genau so geschah es. Der Boden unter Ravend und seinem Clan tat sich auf und die bösen Geister rissen alle mit sich in die Tiefe. Arrgawutas Kind jedoch wurde von einem Jagjaru gerettet, auf dessen Rücken es zu einem Ort gelangte, an dem Menschen lebten, die nur auf dieses Kind gewartet hatten. Denn die Seelenjägerin war ihnen zuvor erschienen und hatte ihnen ihre Tochter angekündigt. Es wäre eine Frau mit drei Augen, einer guten Seele und heilenden Händen.

Noch heute sagt man, dass Männern, die eine Nacht mit einer Drittaugen-Frau verbringen, Unheil droht, sollten sie diese Frau und ihren Clan belügen oder verärgern. Denn Arrgawuta, die Seelenjägerin des Dschungels, wird in ihrer Wut erbarmungslos um sich schlagen, sobald eine magische Trohpa nicht mit Liebe und mit dem ihr gebührenden Respekt behandelt wird. Eine Lüge in einem Trohpa-Clan wird immer großes Unglück nach sich ziehen, weil diese Menschen Wahrheit und Wahrhaftigkeit so sehr brauchen wie die Tropenpflanzen das Licht von Aureus.

 

Entsetzt blickte Lando auf. Dann starrte er ins Feuer. Die Fensterläden klapperten immer noch. »Was für eine Schauergeschichte!«, sagte Nora. Sie legte ihren Mondmuschelhut beiseite und wickelte das Garn auf.

»Das kann nicht sein«, äußerte er kopfschüttelnd.

»Ich meine, das hört sich ja wirklich gruselig an.«

»Lando, Schatz, was hast du denn? Es ist doch nichts weiter als eine Geschichte!« Sie lachte. »Also jetzt kommst du mir gerade wieder vor wie mein kleiner Junge, der damals geglaubt hat, ich wäre eine Meerjungfrau!« Lando trank einen Schluck Tee und schwieg. »Was ist nur los mit dir in letzter Zeit?«, fragte seine Mutter ihn. Er klappte das Buch zu. »Das ist eine typische Abschreckungsgeschichte, die nur die Vorurteile gegenüber den Trohpa verstärken soll! Kein Wunder, dass kaum jemand bei ihnen einkauft und sich vor ihnen fürchtet, wenn so etwas schon kleine Kinder zu lesen bekommen!«

»Ich habe dir diese Geschichte damals nicht vorgelesen.« »Stimmt. Mir gefällt sie auch gar nicht. Wie gesagt, die Leser sollen doch einfach nur Angst vor den Trohpa bekommen.«

»Du meinst vor den Drittaugen! Vor den anderen fürchtet sich doch kaum jemand hier in Ostink.« Nora musterte ihn nachdenklich. »Jackson hat mir erzählt, dass du nachmittags oft in Richtung Dschungel reitest.«

Abrupt stand er auf, steckte das Buch zurück ins Regal und meinte: »Ich geh dann mal wieder rüber!«

Er gähnte. »Ich bin auch wirklich hundemüde.«

»Weißt du, meine Eltern haben William nie akzep-tiert, weil er ein Kiemenmann ist. Ich will nicht, dass du auch so etwas durchmachen musst!«

»Du siehst Gespenster, Mutter!«

Schnell verabschiedete er sich von ihr. Dann drehte er sich noch einmal um, nahm das Buch erneut aus dem Regal und verließ damit erst das Elternhaus und dann das Firmengelände. Durch den strömenden Regen rannte er zu seinem Fischerhaus. Er spürte, wie sich seine Tränen mit dem Regen vermischten. Seine Lippen schmeckten salzig, als er in seiner Wohnung ankam. Nach einer Dusche las er sich die unheimliche Geschichte noch einmal durch. Der Sturm nahm ab. Schließlich schloss er das Buch und betrachtete den Dschungel an seiner Decke. Die Augen des im Gebüsch versteckten Jagjaru kamen ihm zugleich bedrohlich und freundlich vor.



Copyright Bente Amlandt 2024 / geschrieben am 23.04.2024



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