Aponis Besonderheiten und ... zu dunkler Stunde auf dem Klippenweg
Lando konnte am Nachmittag zum Slómo reiten. Heute übten sie wieder gemeinsam Bogenschießen. Lando traf eine Pyllbackofrucht. Anschließend saßen sie am Flussufer. Aponi sagte auf einmal: »Ich würde gern mal in dich hineinsehen.« Lando wollte gerade von der Pyllbackofrucht abbeißen, doch nun hielt er inne. Sein Puls beschleunigte sich. »Nein, lieber nicht«, sagte er dann. Wenn jetzt ein Ohrenkaiman erschienen wäre, hätte er sich über diese Ablenkung gefreut. Doch es rieselten nur einige Blätter in den Fluss hinab, nachdem ein Trohpa-Affe von einem Baum zum nächsten gesprungen war.
»Ich mache es, wenn du mich dann küsst!«, sagte er auf einmal. Aponi erwiderte: »Das kommt darauf an, was ich in dir sehe!» Die Sommerfalter verzogen sich auf einen Schlag und flatterten zum anderen Flussufer. Nun surrten nur noch die Minnibries über ihnen. Aponi legte ihre Hände auf seine. »Du hast doch nichts zu verber-gen?» Plötzlich wirkte sie misstrauisch. Nach einer Weile war er einverstanden. Sie bat ihn: »Nimm die Hand vom Revolver! Ich tue dir nichts! Wenn du willst, dann setze ich mich auch noch ein Stückchen weiter weg von dir, ja?» Er seufzte. »In Ordnung!»
Aufgeregt hockte Lando sich nun so hin, dass er notfalls noch schnell vom Felsen fliehen konnte. Aponi schob ihren roten Zopf mit ihrer typischen Handbewegung nach hinten, dann löste sie ihr Stirnband. Er sah erst auf ihre Knie, vor denen auf einmal das grüne Tuch lag. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und hob seinen Blick. Auf einmal wusste er nicht, womit er gerechnet hatte, aber was er jetzt sah, entsprach so gar nicht seinen Erwartungen oder Ängsten.
Das grünblau schimmernde große Stirnauge wirkte freundlich, kraftspendend und so wohltuend wie der grüne Stein seines Armbands. Es war umkränzt von langen dunklen Wimpern und war trotz der Abartigkeit, dass es sich in Aponis Stirn befand, auf einmal so natürlich, als würde er seiner Stute Sunny über den Kopf streicheln und dabei in eins ihrer Augen blicken. Er fühlte sich weder bedroht noch verhext.
Erst jetzt stellte er fest, dass Aponi ihre beiden anderen Augen geschlossen hatte und bewegungslos vor ihm saß. Er war allein mit ihrem dritten Auge. Das war so seltsam, als hätte sie den Ort verlassen und als sollte er nun mit einem ihm fremden Wesen kommunizieren.
Sollte er etwas sagen? Etwas Spezielles denken? Er wusste es nicht und sah ein wenig ratlos weiter in dieses Auge hinein, sodass er schon meinte, zu schielen. Es passierte rein gar nichts.
Schließlich band Aponi sich das Stirnband wieder um. Jetzt hörte er die Minnibries surren und das Kreischen der Affen über dem Slómo. »Und?«, fragte er sie aufgeregt. »Was hast du gesehen?«
»Das ist mir noch nie passiert«, flüsterte sie. »Ich verstehe das nicht. Aber ich konnte nichts sehen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich konnte nichts sehen - außer uns. Ich erhalte keine Bilder, keine Visionen. Ich sehe nur den Slómo und uns.«
Aponi ergänzte: »Wahrscheinlich ist es einfach so, wie Chuchip schon gesagt hat: in Kiemenmänner können wir nicht hineinblicken! Obwohl er immer meint, das als Einziger zu können!« Nun lachte sie. »Mein Vater ist speziell.«
Es war Lando recht, dass sie nichts hatte sehen können und es beruhigte ihn ungemein, dass er sich immer noch gut fühlte und ihm nichts passiert war. Lächelnd wischte er ihr einen Tropfen vom Knie. Der Felsen unter ihm war warm, der Wasserfall rauschte. Alles war wie immer. Doch Aponis Blick wirkte verändert. Nervös starrte er auf ihr Stirnband. Sie sah ihn aus ihren braunen Augen an, ganz so, als gäbe es das andere dritte Auge hinter dem Stirnband nun gar nicht mehr. Langsam näherte sie sich ihm. Obwohl er so verliebt in sie war, kam sie ihm plötzlich unheimlich vor, und er war kurz davor, sich nach hinten über den Felsen in den Wasserfall und in den Fluss zu werfen. Doch etwas an ihrem Blick sagte ihm, dass er nicht fliehen musste und dass er genau hier und jetzt richtig war.
Nun setzte sie sich ganz dicht vor ihn. Wie in Zeitlupe bewegten sich ihre Hände zu seinem Gesicht. Als sie diese auf seine Wangen legte, atmete er tief ein und ließ es geschehen. Es fühlte sich gut an. Er betrachtete ihre schlanke Nase und ihren atemberaubenden Mund. Je näher sie ihm kam, desto sicherer wurde er sich seinem Gefühl. Als Aponi ihn mit ihren Lippen berührte, schloss er seine Augen. Der Kuss löste ihn aus seiner Starre. Dann erkundete er mit seinen Lippen und seiner Zunge ein bisher immer sehr ferngedachtes Leben. Sie schwirrten umeinander, näherten sich, drückten sich, und als er fordernder wurde, löste sie sich auf einmal. Danach strich er ihr über ihre Finger und fuhr ganz vorsichtig mit seinen Händen über ihre kahlen Schläfen, was er schon immer mal hatte machen wollen. Er streichelte ihre Wangen und ihren Mund. Sie tat es ihm gleich und erkundete sein Gesicht mit ihren Fingern, als wäre sie blind. Er verspürte den unbändigen Wunsch, mit ihr zu schlafen. Endlich hatte sie ihn geküsst! Überglücklich sah er sie an.
Aponi hielt auf einmal seine Hände fest und fragte:
»Vertraust du mir?» »Natürlich! Ich habe in dein drittes Auge geblickt!» Er lachte. Plötzlich fragte er sie:
»Was kannst du damit eigentlich sehen? Du hast von Bildern und Visionen gesprochen.«
»Bis jetzt habe ich es noch nicht so oft praktiziert. Ich konnte bei einigen Clanmitgliedern Visionen über deren Zukunft empfangen. Wenn ich mein drittes Auge trainieren würde, dann würde ich wahrscheinlich eine gute Vorschauerin werden, aber das gefällt mir nicht.« Sie sah in sein verdutztes Gesicht und erklärte ihm: »Es ist wie bei dir und der Fischhandelsfirma oder wie mit deinen Kiemen. Ich habe die Veranlagung dazu, ich habe ein drittes Auge und könnte damit in die Zukunft sehen, aber ich will es einfach nicht!«
Daraufhin schilderte sie ihm, dass die Seher ihres Clans eine spezielle Ausbildung durchlaufen müssten und dass es Vorschauer, Rückschauer und eine Allseherin geben würde. Chenoa konnte als einziges Clanmitglied sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft sehen. Zu den Sehern zählten insgesamt nur vier von über vierzig Personen. Ihr Vater Chuchip holte sich Rat bei ihnen, entschied aber auch unabhängig von ihnen, weil er der Clanführer war und über ein magisches drittes Auge verfügte.
Gebannt hörte Lando ihr zu. Er fragte nach, weil er wissen wollte, ob die Vorschauer ihren Clan schon durch einige Visionen hätten retten können, was sie bejahte. Ihn interessierte auch, was es für einen Sinn es hatte, in die Vergangenheit eines anderen zu blicken. Doch daraufhin lächelte Aponi nur und meinte: »Na, überleg mal!«
Schweigend sah er sie an. In diesem Moment dachte er, dass es gut war, dass sie nichts von seiner unglücklichen Liebe zu Anna in ihm gesehen hatte. Schließlich meinte er: »Natürlich weiß ich, was du meinst. Es ist sicher hin und wieder von Vorteil, die Vergangenheit eines Menschen zu kennen, aber ich kann mir vorstellen, dass die Vorschauer eures Clans doch sicher eine noch viel wichtigere und entscheidendere Aufgabe erfüllen.«
»Darüber habe ich so noch nie nachgedacht. Ich habe keinen so guten Draht zu den Sehern. Weißt du, Chenoa ist schon sehr alt und manchmal weiß ich nicht, ob es gut ist, dass mein Vater immer auf sie hört. Es gibt doch auch noch so etwas wie eine innere Stimme, ein gutes Bauchgefühl. Dafür braucht man keine Allseher.«
Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Gut, dass Chuchip mich jetzt nicht hören kann!« Erneut beugte sie sich zu Lando, um ihn zu küssen.
Danach erzählte sie ihm: »Weißt du, als Kind hatte ich immer Angst vor einem Händler aus Süd-Varan, der uns damals Maismehl gebracht hat. Er hatte ja kein Stirnauge und hat auch etwas anders gesprochen als wir, mit einem Dialekt des Südens. Sobald er erschien, habe ich mich jedes Mal versteckt. Ich hatte Albträume von ihm und ich habe immer befürchtet, er würde mich oder eine andere Trohpa entführen. Als ich zwölf Jahre alt war, sind meine Mutter und vier weitere Clanmitglieder mit ihm in Richtung Sîlard geritten, um dort Pferde zu kaufen.« Es fiel ihr sichtlich schwer, weiterzureden. Nach einem Seufzer sagte sie: »Sie sind nie wieder zurückgekehrt.«
»Du hast es also vorhergesehen!? Und du glaubst, dass sie in Sîlard umgekommen sind?«
»Chenoa hat es so gesagt, ja. Allerdings können sie natürlich auch von den Redcaps im Wanawald oder vom Tákori-Clan angegriffen worden sein. Seitdem hat Chuchip jedenfalls sämtlichen Händlern den Zutritt zu unserem Clan verwehrt. Einige hat er sogar töten lassen. So, jetzt weißt du, warum ich keine Seherin sein will. Ich könnte es einfach nicht ertragen zu wissen, dass uns Unglück widerfahren wird.«
»Wäre es nicht auch gut? Schließlich könntest du dann im Vorfeld etwas dagegen unternehmen«, überlegte Lando laut.
»Wir haben zwei Vorschauer, die für uns in die Zukunft sehen. Das reicht. Ich muss das nicht tun, ich will es nicht!«, sagte Aponi.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, dann können also normale Magenas gar nichts mit ihrem dritten Auge sehen, wenn sie es nicht trainieren?«
»Richtig! Und wenn sie keine Begabung dafür haben.«
»Das ist verrückt! Das bedeutet, dass viele sich ganz umsonst so sehr vor euch fürchten! Mein Vater hat mir weismachen wollen, dass Drittaugen einem mit einem einzigen Blick die Seele rauben können.«
Sie lachte kurz auf. »Ja, es ist gut, dass sie uns fürchten! Denn sonst würden vielleicht auch Malutmenschen oder Händler zu uns kommen und unseren Clan stören oder zerstören.«
Nachdenklich fragte Lando: »Mal angenommen, ich würde zu deinem Clan reiten. Was würden sie dann mit mir machen?«
Aponi lächelte, dann sah sie ihn neugierig an. »Würdest du das denn wirklich wollen?« »Warum nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mal ganz abgesehen davon, dass es nicht so leicht ist, unseren Clan zu finden, so weiß ich nicht, was passieren würde. Wenn ich ihnen sagen würde, wer du bist und dass in dir ein guter Geist wohnt und du mein Freund bist, dann würden sie sich davor hüten, dir auch nur ein Haar zu krümmen. Denn ich bin ja schließlich Chuchips Tochter!«
Jetzt schien sie sich die Situation auszumalen und musterte ihn. »Aber mit Sicherheit kann ich es nicht sagen, weil erst einmal die Seher befragt werden müssten. Ich finde es besser, wenn wir uns nur hier treffen! Auf unserem Schilleringfelsen!»
Irgendetwas daran störte Lando, aber er stimmte ihr dennoch zu. Denn riskieren wollte er es nicht, als unliebsamer Eindringling von den Magenas getötet zu werden.
»Und was würde dein Clan in Ostink mit mir machen?«, fragte sie ihn. Schmunzelnd korrigierte er sie:
»Meine Familie. Nun, im Gegensatz zu meiner Mutter mag mein Vater keine Trohpa. Er würde dich sicher nicht einmal ins Haus lassen und dich schlimmstenfalls vom Hof jagen.«
»Siehst du! Bei dir ist es also genauso!» Anschließend schüttelte sie traurig den Kopf. »Zu dumm, dass nicht mehr Kiemenmenschen mit Drittaugen befreundet sind! Es könnte alles so viel leichter sein für uns!«
Er gab ihr Recht. Doch er kannte die Einheimischen Ostinks gut genug, um zu wissen, dass solche Beziehungen im Grunde undenkbar waren. Die Ostinker würden sich eher mit Kiemenmännern oder mit Kiemenfrauen aus Unlivast einlassen oder sogar notfalls nach Süd-Varan ziehen, als sich auf dreiäugige Trohpa einzulassen.
Kurz darauf lagen sie auf dem Felsen. Er spürte deutlich, dass sie sich einfach nur an ihn schmiegen wollte und er sich mal wieder beherrschen müsste, um nicht über sie herzufallen. Der Schilleringfelsen wäre auch nicht der geeignete Ort, um Aponi zum ersten Mal zu lieben. Sie schob ihre rechte Hand in seine rechte, dann hoben sie ihre Hände gemeinsam zum Himmel.
»Siehst du, wie schön unsere Hände sind? Wie ein einziger Vogel!«, sagte Aponi. Nun bewegten beide ihre Finger in der Luft. Im nächsten Moment hörten sie ein Donnern. Sie verharrten kurz, dann flüsterte Aponi: »Gewitter.« Sie beeilten sich, um noch schnell zu ihren Pferden zu kommen. Übermütig hob Lando Aponi hoch. Als sie im Sattel saß, beugte sie sich noch einmal zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Sehen wir uns morgen?«, fragte sie ihn, wobei er lächelnd feststellte, dass ihr Gesicht ganz erhitzt war. Ohne darüber nachzudenken, ob er sich nachmittags freinehmen könnte oder nicht, antwortete er: »Natürlich! Gleich morgen!«
Nach diesem wundervollen Tag ritt Lando nicht mehr zu Ken. Erstens wollte er das Gefühl und die Küsse noch weiter nur für sich genießen und zweitens würde Ken wahrscheinlich schon seine Umzugskisten für Süd-Varan packen, denn dort sollte er ein oder mehr Semester seines Medizinstudiums verbringen.
Vor der Fischhandelsfirma saßen wie so oft Jimmy und Tyron. Heute grillten sie Laponfische mit Hartwig und seinen beiden Söhnen. Tim und Fredo spielten mit den großen Bojen, auf die sie sich wie auf Schaukelpferde gesetzt hatten. Im Haupthaus brannte kein Licht. »Deine Eltern sind bei den Rockwens!«, meinte Tyron, der Landos Blick bemerkt hatte. »Wolltest du gar nicht mit? Ich dachte, du wärst auch da, um Paola zu sehen«, meinte Jimmy und grinste daraufhin mal wieder. Lando seufzte. »Heute war mir nicht danach!« Da sie Hartwigs Geburtstag feierten, konnte er sich nicht so schnell absentieren. Er brachte Sunny in den Stall und bat Felix darum, sich um sie zu kümmern. Anschließend lief er noch einmal in seine Wohnung und suchte fieberhaft nach einem Geschenk für Hartwig. Schließlich fiel sein Blick auf den einzigen möglichen Gegenstand, der ihn interessieren könnte: Landos Fernglas. Er schnappte es sich kurzerhand, ergriff noch eine Flasche Schadon und eilte dann wieder hinunter. Anschließend gratulierte er dem Klippenwächter noch einmal, umarmte ihn und drückte ihm das Fernglas in die Hand. Hartwig bekam ganz feuchte Augen. »Das ist ja eins aus Sîlard!« Aufgeregt stand er auf, drehte an dem Fernglas, das im Gegensatz zu seinem alten für zwei und nicht nur für ein Auge gemacht war und blieb ganz begeistert damit stehen, um vom Hof aus über den Klippenweg bis zum Meer hinter der Steilküste zu blicken.
»Da haben wir den Salat! Dabei hatten wir ihn endlich mal von der Küste wegbekommen!«, scherzte Jimmy. Tyron pflichtete ihm bei und rief: »Nun komm schon zurück, Hartwig! Du hast Feierabend! Das Fernglas kannst du auch morgen noch testen! Und die nächsten vierzig Jahre!« Die Männer lachten. Jetzt ging Paul Arm in Arm mit Ulla den Klippenweg entlang. Sie winkten ihnen zu. Jimmy verkniff sich einen Kommentar, er hob lediglich anerkennend die Augenbrauen. Nachdem Hartwig sich wieder zu ihnen begeben hatte, bedankte er sich ganz überschwänglich bei Lando. Etwas tollpatschig fielen die beiden großen Kiemenmänner einander in die Arme. Der Blick des Klippenwächters blieb an der Perlenkette hängen, die ein ganz kleines Stück aus Landos Hemd ragte. Nur er hatte sie sehen können. Hartwig tätschelte Lando an der Schulter. »Du glaubst gar nicht, was für eine große Freude du mir damit gemacht hast! Und du bist sicher, dass du es nicht behalten willst?« »Ich bitte dich! Es ist für dich! Ein Geschenk zurückzugeben bringt außerdem Unglück!« Tim und Fredo holten sich ihre gegrillten Fische ab. Danach erfuhr Lando, dass Hartwigs Frau Charlotte noch mindestens vier Wochen in der Lerock-Klinik bleiben sollte. Zum ersten Mal sprach Hartwig vor den anderen Kiemenmännern über das Malutfieber seiner Frau. »Ich hoffe, sie schafft es noch einmal zurück. Ich will nämlich nicht mit den beiden Jungs nach Sîlard fliegen. Ehrlich gesagt will ich überhaupt nicht dorthin! Es heißt, dass die Kontrolleure und auch die anderen Sîlardi uns Kiemenmenschen wie Abschaum behandeln!«
Sie tranken aus der letzten Rumflasche, von der Lando nichts wollte. Er schmeckte immer noch Aponis Küsse auf seinen Lippen. Das Gespräch über das Malutfieber machte ihn nachdenklich. Im Sommer rieb er sich mit Bitterfrüchten ein und es war ihm bis jetzt noch nichts geschehen. Der östliche Trohpa-Dschungel galt außerdem als frei von infizierten Malutmücken. Sonderbar war nur, dass die Kiemenfrau Charlotte, die ihr gesamtes Leben nur an der Küste verbracht hatte, unter einer so schweren Form des Malutfiebers litt. Während Jimmy und Tyron mal wieder eine Geschichte nach der anderen zum Besten gaben, blickte er ins Feuer und dachte an Aponis drittes Auge. Hartwig saß neben ihm. Er strich immer wieder mit seinen Fingern über das Fernglas. Ab und zu warf er ihm von der Seite her einen Blick zu, in dem mehr als Dankbarkeit lag.
Am nächsten Abend
Auf dem Klippenweg mied Paul den Schein der Laternen. Heute Nacht war er hier allein, allein mit seinem alten Ich und seiner neuen Wut. Die vielen Jahre seines Lebens auf der »Spion« waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Obwohl er seine Vergangenheit auch hasste, so genoss er urplötzlich den Moment hier mit dem Meeresrauschen hinter sich, den Monden über sich und dem Gefühl, dass etwas von damals sich gerade wieder in ihm breitmachte. Er war berauscht von der Gewissheit, dass gleich etwas Großes und Einzigartiges geschehen würde. So wie damals, sobald sie sich einem Schiff genähert hatten. Er hatte die Vorräte weggeschlossen und dann seine Messer gewetzt. Er hatte auf die Luke gestarrt, bis er Blendos dicke Stiefel gesehen hatte und einen Tritt gegen die Luke vernommen hatte. Dann war er die schmale Stiege hinaufgeklettert und hatte seinem Namen alle Ehre gemacht. Zumsa, der Blitz der Rache, Zumsa, der Messerkönig. Fünfunddreißig Jahre lang hatte er seine Mannschaft nicht nur versorgt, sondern sie auch verteidigt. Dass sie ihn vor kurzem urplötzlich nicht mehr gewollt und gebraucht hatten, verdrängte er. Er verstand es nicht, er war fast wahnsinnig geworden auf der Felseninsel. Und nur der noch viel größere Wahnsinn, von dem Blendo Bottjos befallen war, musste schuld daran gewesen sein, dass er von ihm ausgesetzt worden war. Kein Haar, keine Made und auch keine Ratte waren in seinem Essen gelandet! Aber hier, auf dem Land an der Bucht, hier gab es Ungeziefer, das es zu erledigen galt! Das war er seiner Liebsten schuldig. Seiner allerersten Liebsten.
Er zog sich Handschuhe an. Auf der Terrasse des Kuppelhauses boten zwei Lampen ihm genügend Sicht. Dr. Clariggs begutachtete einen Brunnen im Garten. Nun schritt er langsam mit einem Glas in der Hand zurück zum Haus. Noch einmal säuberte Paul das Messer. Als er mit dem Tuch über die Klinge fuhr, war er auf einmal wieder Zumsa. Nicht nur der Koch der »Spion«, sondern der beste Messerwerfer des Ostmeeres! Er pirschte sich von der Nordseite des Gartens her noch weiter heran, bis er die richtige Entfernung hatte. In dem Moment, als Dr. Clariggs einen Ast knacken hörte und sich umdrehte, flog das Messer blitzartig in seine Brust. Er taumelte, sah kurz entsetzt auf den Schaft, dann fiel er wie ein Brett zu Boden.
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