Auf der Felseninsel ist jemand!«, stellte Hartwig fest. Er reichte Lando sein Fernglas, durch das dieser nun schaute. Er stellte es scharf und suchte die Felsen der Insel ab, bis er an einem dunklen Punkt hängen blieb. Er ging noch näher heran. Was wie eine große Krähe aussah, hatte zwei Beine und zwei Arme. »Das kann nicht sein«, murmelte Lando. »Ja, da ist jemand«, sagte er dann. »Wie ist er oder sie dahingekommen? Zum heiligen Barrameo, ist das ein Schiffbrüchiger? Aber wann ist denn jemand in der Bucht verunglückt?« Er senkte das Fernrohr. Dann sah er den Klippenwächter an, der wie eine bleiche Wachsfigur neben ihm saß. Es hätte nur ein Schild mit der Aufschrift »Klippenwächter« gefehlt, und er hätte im Museum auf einer Kiste sitzen können, dachte Lando.
»Was machen wir jetzt? Hartwig? Ist ein Schiff gesunken?«
»Nein. Aber du siehst ihn auch? Da ist jemand.«
Lando nickte. Plötzlich sagte er eifrig: »Die Fischerboote sind schon alle im Einsatz. Aber ein Motorboot ist noch frei. Ich habe noch zwei Stunden Zeit. Wenn du willst, fahren wir jetzt rüber und sehen mal nach.« »Bist du verrückt? Nie im Leben!«, entgegnete Hartwig.
»Ach, es ist nicht weit. Komm, lass uns nachsehen! Wenn du William oder die Küstenwache benachrichtigst, dann werden sie es wieder für einen blinden Alarm halten. Aber wenn wir beide jetzt rüberfahren, dann können wir uns mit eigenen Augen vergewissern. Das Meer ist ruhig. Uns kann gar nichts passieren. Komm, Harty!«
Wie gebannt beobachtete Lando jetzt Hartwigs Mienenspiel. Für jeden anderen wären die unmerklichen kleinen Zuckungen unbedeutend gewesen, aber Lando las in Hartwigs Gesicht wie ein erfahrener Seemann in einer Seekarte.
In Ostink war es in aller Munde, dass der Klippenwächter ein Schiffsunglück überlebt hatte. Einige aus der Fjordt-Firma hielten es für möglich, dass Hartwig Zeuge eines Piratenangriffs geworden war und selbst einen Hieb abbekommen hatte. Andere meinten, er hätte sich das nur ausgedacht, um sich interessant zu machen und wäre als Kind von seinen Eltern, die vermutlich kriminell gewesen waren, hier ausgesetzt worden. Es kursierten diverse Gerüchte über Hartwig, der nicht der leibliche Sohn des vorherigen Klippenwächters Jasper gewesen war. Doch Lando schenkte all diesen Gerüchten keinen Glauben.
Seit er wusste, was die Ostinker alles aus seinem Tauchunfall und seiner Begegnung mit dem giftigen Schwebfisch gemacht hatten, weil sie so sehr nach irren Geschichten dürsteten, hielt er sich lieber an das, was er selbst sehen konnte und spürte. Und er hatte bereits seit seiner Kindheit hier oben neben Hartwig gesessen und beim gemeinsamen Beobachten der Bucht stets nicht nur in die weite Natur hineingespürt, sondern unbewusst oder bewusst auch immer in seinen Nebenmann, der so schroff und unberechenbar in seinen Launen war wie das Meer und der Ostinker Sturm, den sie hier nur den »Fluch« nannten.
Das Meer und die Insel. Meranka und die Ängste. Alles, was dort unten in der Tiefe der Bucht lauerte und was ihn selbst so viele Jahre lang das Fürchten gelehrt hatte, schien auch in Hartwigs dunkler Seite seiner Seele zu sitzen und täglich von ihm verdrängt zu werden.
In Hartwigs Augen blitzte es. »Werden wir ja sehen«, murmelte er. Es wirkte angriffslustig auf Lando. In seinem Zwiegespräch mit der finsteren Meranka schien der Klippenwächter heute nicht klein beigeben zu wollen. Er nickte erst in sich hinein und dann nickte er noch einmal, während er Lando ansah.
»Ich lass mich nicht von ihr zum Narren halten. Heute nicht!«, ergänzte er. Dann stand er auf. Ungläubig sah Lando zu ihm auf, bevor auch er sich von der obersten Stufe erhob. »Wirklich? Wir gehen runter? Du kommst mit … zur Insel?«, fragte er stockend nach, um ja nicht den Namen der verfluchten Meerjungfrau Meranka zu nennen.
»Allerdings.« Und schon stieg Hartwig todesmutig die alten Holztreppen hinab zur Bucht. Heute war er erstmalig dazu bereit, hinunterzugehen und sich in das gefürchtete und verhasste Gefilde zu begeben, ins Meer seiner ewigen Ängste. Dorthin, wo alles jung und alt zugleich war. Alterslos und nimmersatt schwappten die Wellen ans Ufer. Sie gaben auf ihrer lebhaften Oberfläche niemals das preis, was da unter lauerte. Nur hinten am Horizont stieß das Dunkle aus der Finsternis hervor: Merankas skurriles Meerjung-frauenschloss, das ihr die tausend Ertrunkenen und Verfluchten gebaut hatten, hatten bauen müssen.
Jimmy rief ihnen am Strand zu: »Was ist denn in euch gefahren? Ihr verlasst die Küste? Ist ein Schiff untergegangen, oder was?«
»Lass das mal nicht deine Sorge sein!«, rief Hartwig zurück. Bewusst drehte er ihm sein vernarbtes Auge zu, sodass Jimmy mal wieder wegschaute. Lando gefiel diese Situation. Vor allem, weil es ihm gelungen war, Hartwig zu überreden, mit ihm rauszufahren und ihn so auch mal auf andere Gedanken zu bringen. Seit Charlotte in der Lerock-Klinik lag, ging es auch Hartwig von Tag zu Tag schlechter. Er befürchtete, dass Dr. Clariggs ihr die falschen Medikamente gab, doch seine Frau wollte dortbleiben, bis das Fieber wieder gesunken wäre.
Kurz darauf schoben Lando und Hartwig das letzte Motorboot, das noch am Strand lag, ins Wasser. Anschließend sprangen sie an Bord. Lando war dabei wesentlich schneller als Hartwig, dessen einziger Sport mittlerweile aus seiner morgendlichen und abendlichen Fahrradtour bestand. Als Lando ihm eine Hand reichte, schimpfte Hartwig: »So alt bin ich nun auch wieder nicht. Ich komm schon noch allein ins Boot!«
Und in der Tat, wenig später hievte er sich aus dem Meer hoch und saß anschließend wesentlich nasser als Lando auf der Bank.
Jetzt warf Lando den Sîlar-Motor per Knopfdruck an. Die Sîlarplatinen, die aus der Gebirgsregion der Ribborgs hinter der Metropole Sîlard stammten (und die hundert Mal mehr und schneller Energie um-wandeln konnten als die auf der Erde bekannten Solarplatinen), hatte Tyron gerade erst eingebaut. Lando war begeistert davon, wie schnell dieser exzellente Motor sie nun übers ruhige Meer zur Tanzenden Meerjungfrau hinüberbrachte.
Hartwig blickte immer wieder zur Küste zurück wie ein Urlauber, der zum ersten Mal die Steilküste vom Meer aus betrachtete. Sie erreichten die Felseninsel.
»Hier vorn hat er gestanden«, sagte Lando und deutete zu einem Vorsprung. Dabei fiel ihm auf, dass er wie selbstverständlich »er« gesagt hatte. Er dachte an einen Seefahrer, an einen Überlebenden eines Schiffsunglücks. Sollte es sich um eine Frau handeln, so käme doch nur Meranka persönlich infrage. Doch daran wollte er gar nicht denken. Obwohl Lando inzwischen schon neunzehn Jahre alt war, so hatte er doch noch eine gehörige Portion Seemannsgarn in seinem Kopf. Was die Geister des Meeres betraf, so hielt er es nach wie vor für möglich, dass sie tatsächlich existierten. Darin unterschied er sich nicht von denjenigen, die davon ausgingen, dass es Außer-irdische im All gab.
Lando suchte die Gegend ab. Sie tuckerten um die Insel herum. Hartwigs Wangen hatten wieder Farbe angenommen. Auch er hatte seine Augen konzentriert auf die vielen Ecken und Kanten Merankas gerichtet, von denen sich hin und wieder nur einige der in Ostink heimischen blauen Möwen in die Lüfte schwangen. Lando musste daran denken, dass der irre Historiker und Marionettenspieler Raiko Olafsur die blauen Möwen in seinen Abhandlungen als »Vebratas« bezeichnet hatte.
Jetzt waren sie einmal um die Insel herumgefahren. In der Ferne erblickte Lando einige Fischerboote.
»Nichts zu machen«, meinte er. »Das muss wohl doch eine Sinnestäuschung gewesen sein.«
In dem Moment, als er schon umkehren wollte, entdeckte er jedoch eine Gestalt auf einem Vorsprung.
»Hartwig! «, raunte er dem Klippenwächter zu. Im Nu spürte er Hartwigs Hand an seinem linken Unterarm. »Sei leise!«, raunte dieser ihm zu. »Ich sehe ihn auch. Verdammt. Lebt er noch?«
»Keine Ahnung. Warte mal, ich glaube, er atmet«, flüsterte Lando aufgeregt. »Er hat sich eben bewegt.«
Sie näherten sich der Person. Auf einem Plateau, einem länglichen, flachen Felsen, lag ein Mensch unter einer braunen Decke. Oder waren es Lumpen?
Wie war er hierhergekommen? Der Mensch musste recht groß und dick sein, denn obwohl er zusammen-gekrümmt wie ein Frierender auf der Seite lag, sah er ganz schön massig aus. Die Haare wirkten zerzaust und schmutzig. Das Gesicht war den Felsen zugewandt und vom Meer aus nicht zu sehen.
Als das Boot auf einen der Felsen zu stoßen drohte, griff Lando in den Rumpf hinein und holte ein Ruder heraus. Mit diesem hielt er Abstand von der Insel. Dann stand er auf. Trotz der Schwankungen hielt ihn nun nichts mehr. Er wollte nachsehen und die Insel betreten. Zeitgleich murmelten Hartwig und er ein leises Aureus-Gebet, als Lando das Boot verließ und die sagenumwobene Insel betrat. Er band das Tau des Bootes an einem Vorsprung fest, während Hartwig zwei der vorderen Gummibojen besser platzierte und dann das Ruder übernahm, um erneut das Boot auf Abstand von der scharfen Felsenkante zu halten.
Als Lando auf den liegenden Menschen zuschritt, bewegte dieser sich auf einmal. Er kam hoch, drehte sich um und starrte Lando an. Es sah so aus, als wollte er fliehen, wäre aber zu schwach dazu. Das erstaunlich weich aussehende, runde Gesicht dieses gut genährten Mannes war vor Angst verzerrt. Jetzt hörte Lando ihn etwas wimmern. »He, warte! Hab keine Angst! Ich tu dir nichts«, versuchte Lando ihn zu beruhigen.
Ungläubig sah der Mann hoch. Schließlich fragte er leise: »Wasser … « Er räusperte sich und fragte etwas lauter: »Hast du Wasser?«
Lando half ihm auf. »Natürlich. Komm, ich bringe dich an Land. Wie bist du nur hier hergekommen? Hartwig …« Er wollte den Klippenwächter darum bitten, ihm zu helfen, doch er sah ein, dass einer im Boot bleiben musste. Es war zu teuer gewesen, es sollte nicht gegen die Felsen schlagen. Und Hartwig würde so oder so nie einen seiner Flossenfüße auf die Insel setzen. Für eine Sekunde bekam Lando Gänse-haut, weil er an Annes irre Fredo Fischmann-Sage denken musste. War dieser Gestrandete etwa eine Sagengestalt? War es Fredo Fischmann?
Hartwig wies Lando an: »Hilf mir, der stirbt uns hier sonst noch!« »Was soll ich denn tun?«, fragte Hartwig verzweifelt.
»Pass auf, dass wir nicht untergehen. «
Es hätte lustig geklungen, wenn nicht beide gemerkt hätten, wie schwierig es war, diesen schweren, entkräfteten Mann von der Insel ins Boot zu befördern. Hartwig nahm ihn an einem Arm entgegen, und obwohl das Boot erheblich schwankte, konnten Lando und der Klippenwächter es kurz darauf per Gewichtsverlagerung wieder in eine stabile Position bringen. Wortlos schaltete Lando den Motor wieder an. Hartwig musterte den Geretteten mit ernster Miene.
»Was ist?«, fragte Lando. »Kennst du ihn?«
Ohne Landos Frage zu beantworten, fixierte Hartwig den Mann weiterhin. Schließlich fragte er ihn: »Wer bist du? Wie heißt du?« Doch es war sinnlos. Der Fremde dämmert weg. Ohne ein bisschen Wasser und eine Stärkung wäre es bald mit ihm zu Ende.
Jetzt schaltete Hartwig sein Funkgerät ein, um ein Rettungsfargom zur Bucht zu bestellen. Lando beschleunigte. Sie rasten zurück. Die Fischer waren zu weit draußen, niemand nahm Notiz von ihnen. Ledig-lich den Funkspruch mussten einige von ihnen gehört haben. Der Gerettete lag im Rumpf des Bootes und rührte sich nicht mehr. Am Strand angekommen, lief Hartwig zu seiner Thermoskanne. Vorsichtig flößte er dem Mann kalten Tee ein. In diesem Moment sah er hoch. Er hielt Hartwigs Hand an der Kanne fest und wollte etwas sagen. Den Klippenwächter durchfuhr es wie ein Schlag.
»Kennst du ihn?«, fragte Lando, der Hartwigs Reaktion bemerkt hatte. Endlich kamen ein Notarzt und zwei Rettungssanitäter die Treppe heruntergeeilt. Ludwig konnte kaum glauben, dass sie jemanden auf der Felseninsel gefunden hatten. Sie zogen den Bewusstlosen in einem Leinensitz, einer sogenannten 'Hosenboje', vorsichtig die Küste hinauf. Oben ange-kommen, legten der Arzt ihm eine Infusion an. Dann fragte dieser, ein gut aussehender Mann namens 'Ludwig Helm', ob sie irgendwelche Angaben über ihn machen könnten, ob es ein gesunkenes Schiff gegeben hätte oder Sonstiges. Lando und Hartwig verneinten. Mittlerweile waren die Netzeflicker der Fjordt-Firma in heller Aufregung. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. William kam über den Hof zu ihnen gelaufen und sprach kurz mit ihnen. Dann sah er sich den Geretteten im Transporter an. Ohnmächtig lag dieser unter einer Wärmedecke. Der Sanitäter meinte, sein Puls wäre schwach, aber er hätte gute Überlebenschancen. William wich zurück, weil der Mann stank. Kopfschüttelnd kam er wieder heraus. »Das ist keiner meiner Männer und auch niemand, den ich kenne. Vielleicht ist er aus einem Süd-Varaner Gefängnis geflohen und dann über Umwege auf der Insel gelandet.«
Ludwig hielt das für ausgeschlossen. »Herr Fjordt, ich komme aus Süd-Varan! Das Gefängnis befindet sich mitten in der Wüste. Da ist zwar der Kamso-Fluss in der Nähe, aber selbst wenn er darauf geflohen wäre, würde er nie auf der Felseninsel, sondern noch weit vor der Windbucht ankommen.« Er schaute zu William hoch. Ihm war es unangenehm, von drei großen Kiemenmännern umringt zu sein und von ihnen überragt zu werden. »Wir werden ihn erst einmal waschen und wieder auf die Beine bringen. Die Frage ist nur, wer für seine Behandlung aufkommen wird. Falls doch ein Schiff gesunken ist, könnten wir die Tudo von der Stiftung der Rettung Schiffbrüchiger nehmen. Also lassen Sie Ihre Männer sich mal umschauen, Herr Fjordt!« Dieser wies auf die ruhige Seelage hin, war aber einverstanden.
Hartwig beschloss kurzerhand: »Ich komme mit!«
An William gewandt meinte er: »Ich muss sowieso nach Charlotte sehen!«
Lando wollte ihm sein Fernrohr und sein Funkgerät abnehmen, doch Hartwig meinte, er wäre in einer Stunde wieder hier und nach dem Notruf wären die Küstenwache-Boote sowieso alarmiert und würden die Bucht besser bewachen als sonst. Dann fuhr er mit dem Fargom und dem Fremden zur Klinik.
Dies ist Teil 1 des Kapitels.
Copyright 2024 Bente Amlandt / überarbeitet am 10.04.2024
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